EGOKRANK

Gestern Gespräch mit dem Fingernagel. Er ist krank, der Gute, er geht kaum noch aus. Ein wenig gelblich das Gesicht, mit einer Wulst dort, wo sonst die Stirn thronte, man sieht ihm an, dass es ihm schlecht geht. Warum nicht zum Arzt, fragt das Mitgefühl. Törichte Frage an jemand, der gerade von einem kommt. Wie geht’s dem Arzt, sollte die Frage lauten. Gut, wie sonst? Wer weiß schon, wie es den Ärzten geht? Die kassenärztliche Vereinigung, sicher, aber das steht hier nicht in Frage. Hier geht es ums Ego und da ist Fingernagel der Spezialist. Gehen Sie nicht zum Arzt, so lautet sein Fazit, er meint es ernst und macht dazu eine bittere Miene. Seit der letzten Laserbehandlung sind Teile seines Gedächtnisses weggebrochen. An die Krankheit davor zum Beispiel kann er sich kaum erinnern. Es gilt der Augenschein. »Laser, was ist das?«, sagt er. »Ich kenne keinen Laser. Es war ein chirurgischer Eingriff. Nun, ich bin der, der ich bin. Sehen Sie mich an, junger Mann: einen Nagel in der Fülle seiner Möglichkeiten. Einige davon werde ich ergreifen, das ist sicher, andere werde ich auslassen, denn auch im Auslassen realisiert sich manches. Überhaupt kommt es im Leben aufs Auslassen an. Das Ausgelassene, wie sein Name schon sagt, ist das, was irgendwann doch herauskommt. Es hat eine Kraft, wissen Sie, eine Kraft... Ob es bleibt? Wie sollte es bleiben? Wo sollte es bleiben? Wenn doch sonst nichts bleibt!«
EHRE
»Ich erinnere einzig daran, dass die kostbaren Gaben des Geistes
den Verlust auch des kleinsten Quentchens Ehre nicht vertragen.«
André Breton. – Leicht zu missbrauchende, aber untilgbare
Elementarbegriffe wie Ehre oder Stolz überantwortet man
nicht dem toten Feind oder dem ›fremdkulturell Geprägten‹, man
paradiert mit ihnen nicht in Gänsefüßchen und benützt sie nicht, um
Nachbarn anzuschwärzen, sondern bewahrt sie vor falschem
Zungenschlag und fatalen Lockungen. Man stellt solche Begriffe
klar, nicht bloß. Dergleichen gehört zu den Regeln ihres Gebrauchs,
ohne die sie ganz sinnlos erscheinen – totes Gewäsch von Leuten,
die, aus welchen Gründen auch immer, beschlossen haben, nicht in
Betracht zu kommen. Diese hier sind archaischer Herkunft, sie
halten ein Stück Menschheitsvergangenheit fest, das macht sie der
liberalen Gesellschaft verdächtig und signalisiert Gefahr.
Zugleich stehen sie für die innersten Überzeugungen und
Regularien eines Menschen.
Das lässt sie unverzichtbar erscheinen. Wer diese aristokratische
Begriffsschicht in sich abtötet, wirkt in der Regel geistlos, ein
Unhold unter den Menschen, einer, der Anstoß erregt und den man
stehenlässt, wann immer man die Möglichkeit dazu besitzt. Überdies
erscheint er potentiell gefährlich, denn er achtet die Menschen
nicht, er schmeichelt ihnen nur.
EHRENHAFT

An einer ordentlichen Ehrenhaft ist nichts ehrenhaft außer der
Phrase und die ist abgeschmackt. Es gibt aber auch, woran viel zu
wenig gedacht wird, die außerordentliche Ehrenhaft, die selten
verhängt wird, allerdings mit großem Erfolg. Wer mit
außerordentlichen Ehren haftet, ist praktisch nicht wegzukriegen.
Auch wird es von niemandem ernsthaft versucht. Die Versuchung liegt
in der Ehrenhaft selbst, sie kriecht in ihr hoch wie in einem
Mantel aus Blei und es ist nur eine Frage der Zeit und der
Witterung, ob sie ihren Weg in die Freiheit findet, die als
Knopfloch am oberen Ende prangt: die Freiheit der Selbstanzeige,
die von den Steuerbehörden so außerordentlich geschätzt wird, aber
erst bei Schriftstellern und Großintellektuellen die ihr ganz und
gar gemäße Ausprägung findet. »Seht her, dieses klägliche Häufchen,
das war ich, ihr solltet euch die Nase zuhalten und mich verachten,
aber es gelingt euch nicht. Ihr könnt euch ruhig ein wenig mehr
anstrengen, man möchte ja meinen, ich hätte es nicht um euch
verdient. Beugt euch ruhig darüber, in dieser Pose habe ich euch
gern, ich könnte mich daran gewöhnen. Übrigens, wenn ihr mich
sucht: Hier bin ich, hoch über euren Köpfen.«
EICHENDORFF
Der Seelenlaut hat eine Literaturgeschichte im Gepäck und die tickt katholisch. Sie könnte auch anders ticken, aber so, wie sie nun einmal tickt, tickt sie fort,
in einem fort, könnte man, mit einer Spur Häme im Gesicht, anmerken. Es ist die alte Geschichte, das Erste und Einzige braucht die längste Rechtfertigung. Pädagogisch muss sie sein, das unbedingt, die ganze lange Rolle des Geschriebenen darf nicht mehr enthalten als eine Anleitung zu dem, was man gerade so treibt, das unbedingt und weiter ohne Besinnung. So muss es sein. Waldesrauschen und Weihrauchduft und Wortkaskaden über alles, was anders spurt. Die eiserne Romantik rumpelt auf Holzkarren durch den Zauberwald und reklamiert die Sterne als geistiges Eigentum. Warum? Weil sie so funkeln. Hübsches Wort für eine verteufelte Sache. Dass die Minnesänger noch »hoch zu Ross« dichten, wer möchte einen Pferdeapfel dagegen setzen? So atmen sie freier und sind, aus der Perspektive von Steigbügelhaltern, den Stars näher, auf die man, tick tack tick tack, zählt.
EIFERGLAUBE

Wir lernen heute viel über die Religiosität vergangener Epochen, doziert Engel, jedenfalls, sofern wir uns lehren lassen. Vor allem das Gemachte daran, die Zurichtungen des Glaubens, des scheinbar Einfachsten und, wie es lange schien, Naivsten daran, erscheinen uns mittlerweile in einem neuen Licht – und damit der Kern aller Religiosität, falls man sie nicht auf soziales Brimborium und zauberischen Hokuspokus eindampft und so neuen Zauber betreibt. Glaube ist gewendeter Unglaube, ein tiefes Umströmtsein von dem Gedanken, es könne auch anders sein, es könne immer auch anders sein, zugleich ein entschlossenes Festhalten dessen, was wechselweise als Planke und Festung erscheint: als Ideenverheißung und -gebäude. Das Ergreifen einer Planke erfordert andere Vorkehrungen als die Verteidigung eines strategischen Areals...
– Vorkehrungen, sagten Sie?
– Aber sicher. Das nach vorne Gekehrte, das ist der gläubige Mensch in Erwartung von Sieg oder Niederlage. Er ist es selbst, während er darüber verfügt, darin besteht der Trick. Doch zu meinen, das Wissen entkräfte den Trick, ist nichts weiter als die gewendete Furcht, ein frevelhaftes Wort sei geeignet, den Weltuntergang heraufzubeschwören. So naiv war die Gott-ist-tot-Front nie: sie deutete das peinliche Gefühl des homo pagans, der eigenen Enttarnung als staats- oder kirchen- oder gedanken- oder gemütsfromm beizuwohnen, als ultimativen Sieg des Unglaubens über den Glauben, ein Faktum, das es nur noch herauszuposaunen galt, um ihm – was wohl? – Geltung zu verschaffen, Geltung auf allen Gebieten, in allen Wissens-, Denk- und Handlungsformen, mit allem, was daraus folgen möge. Dumm nur: wer auf Sieg setzt, muss akzeptieren, dass jeder Sieg nur auf Zeit gilt, dass er, wie es so schön heißt, den ›Keim kommender Niederlagen‹ in sich trägt. Alsdann: die Zeit der Niederlagen, sie scheint gekommen zu sein.
– Glauben Sie?
EINAUGE
Wenn ein Einäugiger ein Museum einrichtet, wie sollte das anders
sein als...? So denken die Leute, mit einem gewissen Recht, wenn
man ihren Standpunkt einnimmt, der sicher einer unter mehreren ist,
aber eben... Eben, das ist das Wort. Über der Ebene der
Sonnenhaften glühen die Sonnen mit verstärkter Wucht, sie suchen
näher heranzukommen, um jeden Preis, sie versuchen die große
Verschmelzung. Da tut es gut, durch ein totes Auge zu sehen, durch
das Auge der Toten. Es fehlt den Lebenden, den nur Lebenden, es ist
ein Privileg,
ein wenig
tot zu sein, es ist ein menschliches Privileg oder das
Privileg der Menschen. Wessen auch sonst? Sollen unsere tierischen
Freunde ihre Toten hervorkramen, um uns einen Gefallen zu tun? Wir
halten sie doch ohnehin für unsere Vorfahren, also für tot.
Melancholisch, wie sonst, treten sie uns gegenüber, als unsere
anderen Toten, die nichts hinterließen als uns. Eine schreckliche
Erbschaft. Eigentlich sollten sie uns hassen. Oder wir sie.
EINHEIT
Das Glück, wenn es denn eines ist, kommt, als sei es aufgehalten worden, ein wenig später. Die Menschen nennen es ›innere Einheit‹ und verlangen zu viel und zu wenig von ihr, so dass sie nicht umhinkommen, sie zu verfehlen. Als Getrennte waren sie vollständig, nichts fehlte ihnen außer der Erfahrung der Einheit, die, da sie fehlte, keinen zerbrach. Nun, als vereinten, fehlt ihnen alles. Der Grund zum Beisammensein hat sich verflüchtigt und wohnt bei der Schwiegermutter. Dabei ist das der Weg, auf dem man sich findet: der Grund trägt den Gang, nicht den Kopf, den jeder selbst tragen muss, was immer schwer fällt. Manche wissen das und bestehen auf ihrem eigenen Kopf. Solange sie nicht stehen bleiben, geht das in Ordnung, es geht ganz gut, nur der verlorene Grund zeigt an, dass sie kopflos gehen.
EINPROZENTER
Was haben sie damals gelacht, die Einprozenter der
exceptional nation, als die Zahlen durch die Medien rauschten und die 99% mit nachdenklichen Gesichtern die Kerzen ausbliesen, bevor sie sich in ihre bescheidenen Bettchen legten und die Nachtmütz’ über den Kopf zogen. Ein Viertel des Volkseinkommens in ihrer Hand! Vierzig Prozent des Gesamt-Nationalvermögens! Was immer das Herz begehrt! Es war eine Freude, ein Tuscheln, ein Angenehm-Überraschtsein, das sich in den Gesichtern spiegelte, denn eine glatte Zahl ist stets wie ein Sechser im Lotto: Nicht die Summe macht das Vergnügen, sondern das Glück des Gelingens! – Perfekt. Wie immer sich die Zahlen seither verschoben haben mögen, das Glück ist geblieben. Ein paar Handvoll Leute besitzen die Hälfte des Weltvermögens und es werden von Jahr zu Jahr weniger. Ist das nicht traurig? Wer möchte so einsam zurückbleiben? Doch was immer sich einwenden lässt, es hebt den Ehrgeiz an der richtigen Stelle. Wie das Wort bereits sagt: er geizt, der Ehrgeiz, er geizt mit allem, aber mit ihr besonders. Ehre wem Ehre bekommt, der Ehrgeizige holt alles Entbehrte nach, sobald er die Spitze erklommen hat, alles und alle.
Mir nach, Milliarden! So hallt sein Ruf über den Erdboden und die Milliarden – geben ihm nach.
EK1
Wer das Wort ›Elite‹ betont, der führt etwas im Schilde. Er spricht
einer gewissen Konzentration von Kräften das Wort, einem gezielten Um-
und Ausbau von Institutionen, einer strafferen Indienstnahme
gesellschaftlicher Ressourcen, einer Mobilisierung der Gesellschaft
über das im
Laissez-faire der
sozialen Kräfte erreichte Maß hinaus. Die Zukunft, dieser diffuse
Horizont über einer Landschaft, in der die Dinge ihren gewohnten Gang
gehen, wird unversehens zur Aufgabe, die es zu meistern gilt. Die
Situation ist ernst, es gilt, ihr angemessen zu begegnen. Elite, die
eingebildete wie die vorgebildete, ist das Schoßkind einer
Gesellschaft, die um ihr Überleben in einer gefahrvoll sich wandelnden
Umwelt bangt. Ihre Stärke, so ließe sich leicht zynisch folgern, beruht
mithin auf der Ängstlichkeit derer, die ihr Vertrauen auf Vorschuss
bekunden. Es ist eine Stärke, die von Erwartung genährt wird. Seinen
magischen Reiz bezieht das Konzept einer künftigen Elite aus dem
Versagen der stets existierenden, sattsam bekannten Eliten.
Entsprechend trägt sie die bekannten Züge derer, die heute (wie der
populäre Ausdruck lautet) ›das Sagen haben‹, nur eben ins Ideale
überzeichnet. In den einschlägigen Entwürfen figuriert sie als eine nie
ganz reale, nie ganz futurische Größe. Eins vor allem zeichnet sie aus:
sie wirkt ganz und gar unberührt von den mühsamen
Selbstbehauptungszwängen des gegenwärtig vorhandenen Führungspersonals.
Die neue Elite hat den Nachweis ihrer Fähigkeiten immer schon hinter
sich. In ihrem Handeln – so will es die planende Regie – manifestiert
sich der Behauptungswille der Gesellschaft. Entsprechend gilt ihr das
Vertrauen aller, denen der Zweifel an den eigenen Fähigkeiten zur
zweiten Natur geworden ist.
Es fragt sich allerdings, wie weit hier Wunschdenken im Spiel ist,
wie weit das Schillernd-Zukünftige dieser neuen Elite nicht in den
Bereich irrealer Wunscherfüllung gehört, wie man sie aus Märchen
kennt. Es fragt sich darüber hinaus (obgleich die Frage selten
gestellt wird), ob und wie lange eine neue Elite bei der Lösung der
ihr vorab gestellten Aufgaben verharren darf, insbesondere dann,
wenn sich diese Aufgaben im wesentlichen als unlösbar erweisen.
Besteht nicht die Gefahr, sie könnte sich aus eigener Machtbefugnis
und getrieben von unabsehbaren Systemzwängen an neuen, eigenen
Aufgabenstellungen versuchen, die den Zielen ihrer heutigen
Propagandisten geradewegs zuwiderlaufen? Und wäre dann dies noch
die heute projektierte Elite? Kurz: Ist Exzellenz planbar? Die
Frage klingt, zumindest auf den ersten Blick, paradox.
Nichtsdestoweniger verdient sie, dass ihr nachgegangen wird. Nicht
vergessen sei, dass ›Elite‹ einst eine Güteklasse bezeichnete. Es
wäre daher angebracht, zur leichteren Bezeichnung für die
Bewältiger der unterschiedlichen Aufgaben, die im Schoß der Zukunft
lagern, Eliteklassen einzuführen, EK1, EK2 usw., deren wesentliche
Bedeutung sich nur einer kleinen Schicht von Gesellschaftsplanern
erschließt, die selbstverständlich über jeder Elite rangiert.
EKEL

Ich betrachte den Ekel als einen bewohnten Turm nach Art des Burj
Khalifa in Dubai, der in der Höhe in etwa die Troposphäre umfasst,
also die luftige Planetenhülle, in der sich der Mensch, mit einiger
technischer Nachhilfe, zur Not zu Hause fühlen darf. Will sagen, der
Ekel ist unter den Begleitern des Menschen vielleicht der
aufmerksamste und der mit der längsten Skala. Vielleicht … denn es
kommt immer darauf an, wer ihn gerade bewohnt, denn Gebäude ekeln
sich, wie Maschinen, denen sie ähneln, bekanntlich vor nichts. Sagt
einer »Das ist ekelhaft!«, dann schau ihm gerade ins Gesicht: Es
kann sich um einen Turmbewohner handeln, aber auch um einen
gewöhnlichen Idioten, der nicht weiß, wovon er redet. Im ersten
Fall kommt es darauf an, in welchem Stockwerk besagten Turms er sich
eingerichtet hat – daran bemisst sich der Abstand zum
ekelerregenden Objekt und daran die Kraft der Aussage. Es gibt
schwächliche Ekelvarianten, für die es sich der Blick aus dem
Fenster nicht lohnt, es gibt den Grundekel, der die gesamte Höhe des
Turms durchzieht wie die pulverisierten Stahlstreben des World Trade
Centers und sich von selbst versteht, und es gibt den starken Ekel
vis à vis der Person, dem Ereignis oder der Praxis, die ihn gerade
eingibt. Um diesen starken Ekel zu empfinden, bedarf es starker
Charaktere, die den Mut besitzen, das Fenster offenzuhalten, auch
wenn es zieht und stinkt. Vermutlich wurde der ganze Turm ihnen
zuliebe erbaut. Wie gesagt, viel braucht es nicht, um den Grundekel
zu pulverisieren, sollte einer erst den Sinn des Gebäudes nicht mehr
verstehen. Zum Glück will auch der Terror gegen Andersdenkende
gelernt sein und der Grundekel nimmt, will man dem subjektiven
Eindruck trauen, eher zu als ab. Aber man kann sich täuschen: Die
Welt vom Ekel befreien ist eine Aufgabe, die auch im Blindflug
Lösungen erlaubt.
EKELPÄRCHEN
›Zu denken geben‹ – das klingt nach Tierfütterung im Gehege und meist ist es so gemeint.
Die Bestie hat Hunger: diese Aussage stimmt immer und stimmt den Nachdenklichen ein auf das, was ihn erwartet, wenn er seine Einsichten zum Besten gibt. Wird, was er sich ausdachte, verschlungen, so bleibt ihm ein bisschen Zeit, sich in Sicherheit zu bringen, doch wehe, die unwillige Tatze schlägt es ihm aus der Hand und sie stehen vis à vis, Denknehmer und Denkgeber, einander unter Ekelempfindungen musternd, dazwischen das Gedachte, ein Gekröse, dessen Anblick augenblicks nur noch Ekel erregt –: eine Situation, die das Zeug dazu hat, sich endlos zu dehnen, ein Ewigkeitsgefühl zu vermitteln, und die doch nur ein Moment ist, der kurze Moment, bevor alles kippt und die Brühe des Lebens über den Nachdenklichen rinnt, während die Bestie sich knurrend in ihren angestammten Winkel verzieht. »Glück gehabt«, murmelt der Nachdenkliche, »das nächste Mal werde ich vorsichtiger zu Werke gehen.« Sieh einer an: er träumt schon vom nächsten Mal.
ELSÄSSER

Man erkennt den Elsässer in allem, was er treibt, er hat eine ganz eigene Art, die
Dinge auf den Punkt … zu treiben, so dass sie immer ein wenig auf
der Kippe zu stehen scheinen: Geht’s noch? Oder fällt es schon? Er
hat daraus ein Gewerbe gemacht, das vermutlich seinen Mann ernährt,
aber darauf soll es nicht ankommen. Dass einer täglich seine
Glaubwürdigkeit riskiert, um sie sich zurückzuholen wie aus
Feindesland, das offenbart eine Einstellung zu den Gegebenheiten
dieser Welt, die man als ›postjournalistisch‹ bezeichnen könnte,
wenn man davon absieht, dass damit in der Regel bloß der auf Halde
produzierte Informationsmüll bezeichnet wird. Der Postjournalist ist
Nachrichtenjäger, nicht -sammler, wie seine Vorfahren, er genießt
die Freiheit der Jagd, weil er im voraus weiß, in welches Gebüsch
das erkorene Wild sich flüchten wird, ein wenig kontrollierte Hetze
in freier Luft kräftigt die Lungen und gibt den Kontakt. Wie der
organische Intellektuelle (für den er sich hält) weiß der
organische Journalist sich getragen vom Wohlwollen derer, denen er
seine Jagdbeute offeriert. Gern hält er sich an ihren Lagerfeuern
auf und singt ihre Lieder, dann verschwindet er wieder im Gebüsch.
Weiß der Teufel, was daran ›organisch‹ ist – außer ihm noch
Herr Gramsci, der zu tot ist, um ihn darüber befragen zu können, es
käme auch wenig dabei heraus.
ELSTERNPARADIES
»Ekelhaft, das ist ekelhaft!«, ruft der alte Mann im Park mit der strengen Stirnfalte und zeigt auf die rund um den Papierkorb verstreuten Abfälle. ›Jetzt weiß ich also, was dieses Wort bedeutet‹, denkt das Kind, vielleicht sein Enkel, und mustert ihn gleichmütig. Die Elstern rings auf den Bäumen, Urheber des Spektakels, schweigen. Dumpf empfinden sie, dass es gegen sie geht, dabei sind sie längst weiter und haben anderes vor.
EMANZIPATION

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Anders ausgedrückt, an ihren
Früchten kann man sie erkennen. Eine ganz eigene Art der
Erkenntnis, die reklamiert wird für dieses Paradies, in dem man
keine Äpfel essen durfte. Die Schlange als Ohrwurm, der Eva zu der
Art Selbsterkenntnis trieb, die sie ihre Überlegenheit über Adam
erkennen ließ, eine sexuelle (oder doch biologische?) Abhängigkeit
und notwendig, da es sonst schlecht bestellt gewesen wäre um die
zukünftige Menschheit. Ein standhafter oder frauenfeindlicher Adam
hätte die Sache vor jedem Gedanken an sie abgetrieben. Eva dämmerte
sie mit den Worten der Schlange im Ohr ganz allmählich und sie
opferte sich für die kommende Menschheit. Wie gut, dass Adam bis
heute nichts begriffen hat. Der heutige Adam hält Eva für eine
gefährliche Frau. Ach wie gut, dass er nicht weiß, dass ihr einfach
langweilig war mit ihm allein im Paradies. Nicht, weil er ihr nicht
genügte oder nicht schön, klug oder reich genug war. Nein, das nun
wirklich nicht. Er sah sie doch gar nicht. Jedenfalls hatte er sie
nicht ›erkannt‹, wie es so rätselhaft in der Bibel heißt.
Selbstgenügsam wie Männer in diesen Dingen nun einmal sind,
beschäftigte er sich in diesem verdammten Paradies mit allem
Möglichen, bis hin zum Gärtnern, nur nicht mit ihr. Die Worte
»Wachset und mehret euch« waren noch nicht gesprochen. Das waren
Post-Paradiesworte. Eva kam die Erkenntnis, die ihr die Schlange
ins Ohr gesetzt hatte, gerade recht.
Ergreifen was einen
ergreift. Und so ließ sie Adam kräftig zubeißen. ›Nimm mich!‹
sollte der Apfel ihm sagen und es begann der erste Akt, an dessen
Ende auch für Adam eine Erkenntnis stand. Die Fron begann.
Die
Geburt der Klamotten aus der Erkenntnis der Nacktheit oder,
anders ausgedrückt, als Rat an den Mann (genauer nachzulesen bei
Kant): ›Pass auf, dass deiner Frau nie langweilig wird, sonst bist
du schneller emanzipiert als dir lieb ist.‹ ›Keine Gefahr‹ kann man
da heute nur rufen, ›die machen doch alle Karriere. Das ist ganz
groß in Mode‹. - AC
EMERGENZ
Unter den Begriffen, mit denen man den Wandel zu fassen
versucht, erfreut sich die Emergenz, das blinde Hervorbrechen einer
größeren Einheit, gesteigerter Beliebtheit. So erscheint es der
Risikogesellschaft angemessen. Wo sich nichts kalkulieren lässt,
kalkuliert man das Risiko, am Ende steht das Risiko für das Ganze.
Dass das ganze Begriffsfeld verfehlt sein könnte, dämmert
vielleicht in einigen Köpfen, aber dieses Konzept ist viel zu
schön, als dass man es aus der Hand geben möchte. Das Ersinnen von
Metagrößen, von Meta-Ereignissen und Metastrukturen stößt auf keine
wirklichen Widerstände, auf theoretische ebenso wenig wie auf
praktische, es ist, um es einfach zu sagen, ein müßiges Spiel. Seit
dieses Spiel politisches Handeln begründet, Geldflüsse steuert,
Gesetzgebungen umformt, die Stätten des Wissens zum Umbau freigibt
und globale Freiflächen für militärische Einsätze präpariert,
sollte man wissen – und wenigstens ein Stückweit zugeben –, dass
man spielt.
ENERGIEVERLUST

Was ist passiert? Wie konnte ein solcher Absturz geschehen? Hat man
den jungen Leuten das Welt-Sensorium herausgeschraubt, als handle
es sich um eine kaputte Glühbirne? Was sage ich! Das Malheur ist
nicht auf die jungen Leute beschränkt. Alle leiden simultan. Leiden
sie denn? Man könnte immer noch meinen, sie hätten das Glück
erfunden. Es geht, wenn ich so sage, rückwärts voran, das ist ein
großes Wort für eine unmerkliche Sache, die doch in allen Köpfen
spukt. Das geparkte Leben summt, als sei es entschlossen, aus der
Garage herauszufinden, in die es durch Unvernunft hineingebracht
wurde, aber durch wessen? Und wessen Vernunft sitzt jetzt am
Steuer? Das sind Fragen eines pensionierten Chauffeurs, der, unter
uns, in seinem Leben nie eine Anstellung gefunden hat. Ich denke
aber, dass er Recht hat. Man muss den Dingen auf den Grund gehen
und wo gefahren wird, dort entstehen Lenkungsprobleme. Was ich
eingangs den Absturz nannte, ist ein solches Lenkungsproblem. Man
hat den Leuten nicht gesagt, was ihnen bevorsteht und jetzt tut es
sich hinter ihnen auf. Schlimmer: nichts tut sich auf als dieses
Dunkel, in das der Dieselqualm mächtig hineinbläst, als wolle er
das Problem vergrößern. Auf Energie gesetzt: das ist es. Man hat
die Leute auf Energie gesetzt und jetzt zieht man sie ruckweise aus
ihnen heraus. Aber das stimmt nur halb. Man zieht sie aus ihnen
heraus und steckt sie ihnen an anderer Stelle wieder zu. Eine
Energieart entbirgt der Gesang: »Wir köhönnen uns euch nicht
leisten, das Leheben ist viel zu kurz.« So etwas singt man nicht
wirklich, nur übersetzt könnte es so lauten. Natürlich erhebt sich
die Frage, wer hier
wir
ist und wer
ihr, aber kaum
gestellt, erhebt sich das Wir auf seine eigensten Zehenspitzen und
ergeht sich im hohen Ton, so dass man sein eigenes Wort nicht
versteht. Woran erkennt man dann, dass es das eigene ist?
Vielleicht an der Art, wie es untergeht, man könnte meinen, es
winke.
ENSEMBLE
Es war schön hier und jetzt ist es aus, denn der Auftrag fehlt. Er wurde entzogen, dir, mir, der ganzen bunten Theaterwelt, die wir sind, weil wir darstellen, was wir sind und nicht sind, immer schön eines mit dem anderen. Was sind wir denn? Das habe ich mich gefragt, jeden Abend, wenn ich den Kopf zur Tür hereinstreckte und alle waren schon da. Was sind wir denn? Ein Leckerbissen? Ein Augenschmaus? Ein Ohrengewitter? Eine Grille vom Stadtrand, aus Versehen ins Zentrum verschleppt, dorthin, wo die Kulturtempel stehen? Ach dieser Tempel! Wir nennen ihn nur
das Haus. Nun, da wir schaudernd erkennen, dass es nie unser Haus war, bloß eine Lagerstätte für Brennbares, die jetzt geräumt wird, weil neue Gefahren gebannt werden müssen, ist es zu spät. Sind wir denn ausgeglüht? Sind wir nicht mehr … Bares? Zahlt unbar, Leute, dann sehen wir uns bald wieder.
Entdummungsprogramm

Das Entdummungsprogramm der Regierung: eine Katastrophe! Und wer sind
die Dummen? Die Dummen. Am Ende trifft es immer die Falschen, die
falschen Fuffziger und die falsch Informierten. Dumm gelaufen! Sind Sie
falsch informiert? Ich für mein Teil bin es gern. Das trägt zur
Allgemeinbildung bei, was will der Einzelne mehr? Ein voller Erfolg
hingegen ist das in alle öffentlichen Hände gelegte Programm ›Qualen
mit Zahlen!‹ (von ein paar Ulknudeln entstellt zu ›Quälen durch
Zählen!‹). In allen Provinzen des Landes werden nach einem wirren,
dabei leicht zu handhabenden System Zahlenbündel zusammengekehrt, auf
ultraschwere Lastwagen verladen und in die alte Reichshauptstadt
transportiert. Mancher im Lande fragt sich gebannt, was dort mit ihnen
geschehen mag. Werden sie, nach Begutachtung durch die oberste
Bürokratie und einem publikumswirksamen Besuch des zuständigen
Ministers, verbrannt und auf dem zentralen Zahlenfriedhof entsorgt?
Weit gefehlt: Sie werden verbaut. Die Regierung lässt bauen und folgt
dabei der altbewährten Devise ›größer, schneller, weiter‹.
Ein Dach
aus Zahlen – das erinnert entfernt an den berühmten
Churchill-Spruch:
Die Festung Europa hat kein Dach. Andere
Zeiten, andere Sorgen. Andererseits braucht so eine Festung Licht, Luft
und vor allem: Wasser. Zahlenregen, daran sei an dieser Stelle
erinnert, löst das Problem nicht. Was löst es dann? Ich sage es Ihnen:
Propaganda! Propaganda löst jedes Problem, warum nicht dieses? Das
Lösungswort heißt Dürre. Wir werden diese Zeit der Dürre gemeinsam
überstehen, wenn alle die richtigen Schlüsse ziehen und keiner auf
eigene Faust behauptet, es gäbe doch Wasser, man müsse es nur fließen
lassen. Ein solcher gehört auf der Stelle ertränkt. Doch halt, so
billig kommt keiner davon. Besser, er klemmt, trocken gesprochen,
zwischen Baum und Borke, ein richtiger Schädling: erkannt, verbannt!
ENTEIGNUNG
Man mobilisiert Menschen durch Enteignung, das freut die Enteigner, die weniger mobil sind als sie die Welt glauben lassen, schließlich sind sie es, auf die all das Eigentum übertragen werden muss. »Der beweglichste Mensch ist der beste« – das zu dekretieren fällt nicht schwer, es zu leben schon eher, vor allem dem, der dadurch gezwungen wird, unter lauter besten Menschen zu leben. Wer auf Besitz verzichtet, kann nicht zu den Besten zählen, er ist geistig immobil, das wirkt sich gegen ihn aus. Besser verzichtet, wer nach Besitz strebt, Streben kann nicht schaden, es steigert die Mobilität gelegentlich bis in Bereiche, in die selbst die Gesundheit nicht nachkommt … Streben ist Selbstgenuss pur, insofern ist mehr Genuss nicht vonnöten, doch auch er besitzt eine mobile Seite und begleitet den mobilen Menschen auf seinen Exkursionen wie das Eichhörchen den Waldgänger:
geortet – verschwunden. Währenddessen schreitet, dem technologischen Wandel sei Dank, die Enteignung stetig voran, sie macht auch vor der Eignung nicht halt und dekretiert, dass sich, relativ und aufs Ganze gesehen, in den Ländern des Reichtums immer weniger Menschen für immer mehr eignen, während immer mehr Menschen sich mit immer geringeren Eignungschancen zufrieden geben.
Wozu sollte ich mich eignen? – Das ist keine Klage Bedauernswerter, die ihr mangelndes Selbstbewusstsein vom Staat alimentieren lassen, sondern die stolze Selbsteinschätzung von Menschen, die sämtliche Ausbildungen durchlaufen haben und sich nun fragen, wie sie den Rest ihres Lebens hinter sich bringen sollen. Wo nur Eigentum zählt, wiegt die Enteignung doppelt schwer, weil mit jedem Stück entgangenen Eigentums zugleich ein Stück Eignung schwindet, bis alles dahin ist, ohne dass einer sagen könnte wohin. »Wieviel Mensch braucht der Mensch?« Dahinter steht die Auffassung, dass jeder Mensch eigen ist und daher nur begrenzt einsatzfähig. Ein Satz zuviel und er landet im Gebüsch. Wird er dort Eigner? Oder nur eigener?
ENTFÜRCHTEN
Im Inneren des entfürchteten Universum braut sich etwas zusammen.
Weit entfernt davon, sich zentrifugal zu entfernen, lockert es die
Distanzen, schraubt die Birnen aus, deren kaltes, hartes Licht
seinen Platz als Platzanweiser beansprucht, fegt als Sturm über die
Gefilde des Tausches und stellt den Ramschtisch in die Mitte des
entkorkten Gemüts. Da steht er, ein wenig schwankend, weil
überladen, zum unmittelbaren Genuss des Heterogenen auffordernd,
zum verzehrenden Blick. Oder zum verheerenden? Wer will das wissen.
Wer sich fürchtet, geht über derlei Unterscheidungen im
Schweinsgalopp weg. Und auch das ist nur eine Metapher. Die
Zukunftssorge, so hört man, nimmt die Zukunft hinweg, in die hinein
sie sich sorgt. Diese Zukunft wird niemals stattfinden, während sie
unaufhaltsam auf den sich Fürchtenden zurast. So bleibt nichts als
sich zu entfürchten. Wo
lernt man das? An welcher Quelle? Am Quell der Weisheit, das ist
doch selbstverständlich. Das Wort allein weist es aus. Im Weisen
herrscht Ruhe. Nicht jene Friedhofsruhe nach dem Sturm, den der
Fürchtende fürchtet. Die Ruhe des Entfürchteten versteht sich nicht
von selbst, sie versteht sich nicht von gestern oder morgen, sie
versteht sich von... Heraus! Heraus mit dem Wort! Es muss heraus,
will einer nicht daran ersticken. Das Wort ist einfach, es knirscht
zwischen den Zähnen, es ist nicht zu knacken, es ist einsilbig,
soviel wird verraten. Ist das viel? Wer sollte das wissen? Unsinn,
hört man da sagen, das ist doch Unsinn. Nun, welcher Unsinn kommt
einsilbig aus – keiner! Im Unsinn steckt ein Winkel, ein
gewinkelter Sinn, der den Anschluss sucht und das Fürchten lehrt,
um der Sorge willen. Sorge dich nicht! Das ist leicht gesagt und
überdies töricht. Tor, auch so ein Wort, das den Einsilbigen plagt
und nicht zur Ruhe gelangen lässt. Er spuckt es aus und verlässt
die Walstatt, wer weiß, zu früh.
ENTSCHWISTERUNG

Geschwisterliche Nähe gilt als Glück, dabei wird sie leicht zur Falle. Man kann die missglückte Geschwisterbeziehung als mimetische Erstarrung bezeichnen, bei der die Nachahmung und -äffung des jeweils anderen nicht aus dem Willen zum Ähnlichsein, sondern aus dem verzweifelten Verlangen hervorgeht, anders zu sein und dadurch den anderen auf Distanz zu halten – ein Stellungskampf der Posen und Possen, die allesamt auf Krampf hinauslaufen, wobei letzterer nicht die physische, sondern die soziale Muskulatur befällt: ein feiner, in der Realität nicht immer trennscharf durchgehaltener Unterschied. Dass vieles, was zwischen Brüdern (und Schwestern) geschieht, ›Krampf‹ ist, merkt auch das dümmste Opfer familiärer Verhältnisse. Doch glauben die meisten, er lasse sich dadurch lösen, dass man das alte Intimverhältnis erneuert. ›Es muss doch möglich sein‹: so lautet die Standardformel der untereinander Zerfallenen. Die Möglichkeits-Obsession schleudert sie in endlosen Trommeldrehungen gegeneinander. Just das eine Wort, das alles lösen soll, gibt das andere und erweist sich als pures Beziehungsgift. – »Das soll ich gesagt haben? Und wenn schon:
so ganz gewiss nicht. Welch ein Irrsinn.« Wieso Irrsinn? Dass ein Sinn sich auf Abwege begibt, ist sein gutes Recht, es sollte ihm kein Vorwurf daraus erwachsen. Verhältnisse, in denen der Irrsinn herrscht, lassen sich schwer reparieren, denn sie sind der Irrtum. Gelitten wird an der Nähe, die sich als verlorene maskiert. Da hilft nur Entschwisterung, was immer daraus entsteht. »Du meine Schwester? Das müsste ich wissen. Und wenn schon – wer bist du wirklich? Brauche ich diesen Umgang? Bereichert er mich? Schwächt er mich? Treibt er mich in den Wahnsinn? Will ich ihn – den Wahnsinn? Warum? Was führt er mir zu? Wovon hält er mich ab? Was verliere ich, wenn ich dich verliere? Meine Erinnerungen? Aber nicht doch. Du bist es ja, die sie bestreitet. Dich, die ich meine? Aber dich habe ich verloren, jedes deiner Worte bestätigt es. Also was? Nichts? Weniger als nichts? Was ist weniger als nichts? O – ich weiß es. Aber ich sage es nicht. Das bleibt mein Geheimnis. Daran sollst du nicht rühren.«
ENTTÄUSCHUNG

Die großen Enttäuschungen beulen das Leben, die kleinen das Sofakissen. Eine Enttäuschung kommt selten allein, es verlangt sie nach Gesellschaft, sie will, dass alles auf den Tisch kommt, was sich bisher darunter befand. Die größte Enttäuschung von allen betrifft natürlich das Leben selbst; deshalb kommt sie auf Raten und immer unverhofft. Im Grunde sind alle Enttäuschungen Brocken jener einen großen Enttäuschung, die das Leben bereitet, ja in gewisser Weise darstellt, nachdem selbst sein Danach als lebensdienlicher Bluff daherkommt. Man muss sich nur anhören, was Religionsvertreter über das Jenseits der anderen sagen, dann weiß man Bescheid. Dass Leben auf Täuschung beruht, ist unter Aufgeklärten ein alter Gemeinplatz, es kann jedoch sein, dass sie sich damit täuschen. Erst das Denken bringt die Täuschung hinein, und es täuscht so lange, bis es sich zu Ende gebracht hat. Da aber des bloßen Denkens kein Ende ist, muss es im Einzelnen irgendwann an sich selbst ermüden, das heißt die kurzen Wege bevorzugen und die sind nun einmal mit Enttäuschungen gepflastert. »Bringt nichts!« murmelt der emeritierte Physiker, der sein Lebenswerk durch neuere Forschungen in Gefahr sieht, und gesteht damit indirekt, es nicht gebracht zu haben, jedenfalls angesichts der großen Frage, die alle Forschung antreibt. »Bringt nichts!« dröhnt der Unternehmer auf dem Altenteil, wenn der Stolz auf die Erbin verrauscht ist und schwere Zeiten sich ankündigen. Er hat sich getäuscht und nun ist die neue Täuschung da. Sie ist bloß nicht mehr die seinige. So warten alle auf den kurzen Klick der finalen Enttäuschung, umhegt von der Medizin, die ihre exorbitanten Künste auffährt, um am Ende – zu enttäuschen. Nur der Staat, der sie alle enttäuscht, besteht als Vexierbild fort, und jeder der behauptet, von ihm nichts zu erwarten, lügt.
ENTWAHRLOSUNG
Ein Neologismus, der es in sich hat. Wenn es Verwahrlosung gibt, dann muss es auch Entwahrlosung geben. Viele den Menschen gemeinsame Güter erweisen sich, näher betrachtet, als nicht gut verwahrt oder, auch das gibt Sinn, als
zu gut, als habe sie jemand mit Vorsatz eingewickelt und weggeschlossen – das betrifft vor allem solche, die prinzipiell allgemein zugänglich sein sollten, z.B. Werte, aber auch elementare Einsichten, darunter einige, welche die Funktionsweise von Staaten betreffen, deren Führungspersonal alle paar Jahre zur Wahl steht: letztere sollten unbedingt vor jeder Wahl bekanntgemacht und in den Köpfen der Wähler nach Kräften gehegt und gepflegt werden. Was die Werte angeht, sollte man sie nicht zu abstrakt sehen, sondern auf den Mix aus Überzeugungen, Hochmut, Abneigung, Hass, Verachtung, Ängstlichkeit, blindem Vertrauen und Skrupulosität achten, der sie zu begleiten und betten pflegt. Auch Werte können verwahrlosen, wenn man sie nicht an sich, sondern in ihrem Gruppendasein unter die Lupe nimmt. Ein gewisser Grad an Verwahrlosung ist unausweichlich und sogar wünschenswert, sobald es um Einsichten und Werthaltungen geht, deren Verbreitung jedem Demokraten angelegen sein muss, denn nichts ist flüchtiger als die Reinheit einer Idee, die ihre Runde durch die Köpfe beginnt. Jede Öffentlichkeit unterhält, was meist geflissentlich übersehen wird, neben ihren offiziellen Kommunikationsmitteln auch eine stille Post, die Informationen nach Kriterien wie Schwerhörigkeit, Dickfelligkeit, Schwerfälligkeit, Unaufmerksamkeit, freie/unfreie Assoziation, Denunziationsbereitschaft, Autoritätshörigkeit, Feigheit, mangelnde Merk- und Sprachfähigkeit, vorsätzliches und mechanisches Missverstehen, Kosten-Nutzen aufbereitet und dafür sorgt, dass fast alles, was ›am Ende‹ draußen bei den Menschen ankommt, sich in einem mehr oder weniger heillosen Zustand befindet, angesichts dessen kluge Leute die Hände über dem Kopf zusammenschlagen mögen, was aber auch nicht weiter hilft. ›Entwahrlosung‹ ist die Kunst oder geduldig geübte Fähigkeit, in öffentlicher und privater Rede die Fäden zu entwirren, das panisch Zusammen- oder Auseinandergedachte in eine rational und human vertretbare Ordnung und Relation zu bringen, der Bosheit, Bösartigkeit und dem interessegesteuerten Willen zur Unwahrheit entgegenzutreten, wo immer sie sich der Gedanken anderer zu bemächtigen anschicken, die vergessenen oder versteckten oder verschwiegenen oder tabuisierten Seiten einer Angelegenheit von allgemeinem Belang ins kollektive Bewusstsein zurückzuführen und generell der Verwechslung von Wahr- und
Wahn-Nehmung die gesellschaftliche Spitze zu nehmen. Das klingt, als werde sie allzeit geübt, ja, als liege hier eine von jedermanns Haupttätigkeiten, doch das Gegenteil ist der Fall. Nichts ist schwerer an seinen Platz zurückzustellen als eine entglittene Wahrheit, deren Posten von Stellvertretern blockiert wird, die äußerlich aus Pappe gefertigt scheinen, aber inwendig die Härte von Stahl mit der Unnachgiebigkeit von Industriekeramik vereinen.
EPIKRISIE
Man kann es mit dem Gedächtnis leicht übertreiben. In dieser Hinsicht ist die Alzheimer-Erkrankung eine Erkrankung der ganzen Gesellschaft, so wie einst das
ganze Haus am Kapitalismus erkrankte und verschied. Die künstliche Bevorratung der Erinnerungen erzeugt Visionäre des leeren Gedächtnisses, die sich laut rufend in den Spalten der Jahrtausende verirren und nur durch engen Umgang mit dem geschulten Pflegepersonal der Informationsmedien so etwas wie eine späte Normalität erfahren. Wer immer in früheren Jahren oder Jahrzehnten ihren Weg oder auch nur ihre Gedankenbahn kreuzte, sollte sich von ihnen fernhalten oder äußerst warm anziehen. Der Eishauch, der von ihnen ausgeht, wirkt absolut tödlich. Da sie nichts zu sagen haben, kommen ihnen die Tränen, sobald sie den Mund aufmachen, und niemand macht ihn ihnen zu. Diese aufgeklappten, mahlenden Münder sind ein Symptom, aber für was? Wie immer haben die klinisch Kranken das Nachsehen: das Aufregende an ihnen ist, dass sie für etwas stehen, von dem sie nichts wissen können und, könnten sie es, nichts wissen wollten. Und selbst damit sind sie ein Zeichen.
EPOCHÉ
Das Ende einer Vorherrschaft ist gekommen, wenn es zwar Kandidaten für eine Nachfolge, aber keine Nachfolge gibt. Mancher Anwärter lauert ewig darauf, das Amt anzutreten, das sich ihm akribisch verweigert. Die Auguren des Heute würden ihn gern installieren, aber etwas passt nicht: dieses nicht, jenes nicht, einmal, zweimal, immer wieder, sooft der Versuch auch gewagt wird. Woran es liegt? An wechselnden Gründen, also an nichts Bestimmtem, also an dem, was sich nicht ändern lässt. So verändern sie einmal dies, einmal das, und vertun damit ihre Zeit. Es kommt auch vor, dass der Kandidat klüger ist als seine Parteigänger, es passt ihm nicht, so beim Wort genommen zu werden, und er entzieht sich. Wohin? Das bleibt sein Geheimnis.
ERBÄRMLICH
Lange Zeit haben wir geglaubt, ›erbärmlich‹ komme von Erbarmen. Doch das Deutsche kennt keinen Spaß und so müssen wir am Ende zur Kenntnis nehmen: nein, es kommt von ›erb-ärmlich‹ und gibt einen unmissverständlichen Hinweis auf die ererbte Ärmlichkeit, mir der man, politisch wie privat, Abweichlern begegnet, die ›einen eigenen Kopf haben‹ und wie dergleichen Phrasen lauten mögen. Armut im Geiste kann auf eine lange, ihr nur selten geläufige Tradition bauen. Wäre es anders, sie müsste vor sich selbst davonlaufen. Nichts zum Beispiel fällt der hiesigen Erbärmlichkeit leichter, als einen Gast aus Israel, der vom Katheder herab einer bequemen Ideologie die Gefolgschaft verweigert, als ›Antisemiten‹ zu denunzieren und ihn dorthin zurückzuschicken,
wo er hergekommen ist – ohne Gründe zu geben, einfach so, aus dem Übermut des Gerechten, der weiß, dass für die gute Sache am Ende sich jede Gemeinheit rechnet: ein Beispiel von vielen, deren Aufzählung rasch an den Nerven der Wohlmeinenden zerrt. Das alles bereitet keinerlei Schwierigkeit, es gilt als erlaubt, sogar als geboten. Der Erbarmungslosigkeit ist schon damit gedient, dass sie sich ihre Vorgeschichte ›nicht anziehen‹ will. Nein, sie entstammt nicht dem Heute, sie ist nicht ›rein entsprungen‹, sie ist überhaupt nicht entsprungen, es sei denn dem Irrenhaus, sie ist überall Erbe, sie gedeiht auf eigenem Grund, sie streckt ihre Wurzeln tief in die Vergangenheit und saugt dort Nahrung, wo andere Pest und Verwesung wittern: sie ist
antiliberal.
ERBSCHAFT
Wenn es wahr ist, dass keine Ware ganz Ding ist, sondern immer auch etwas anderes, ein Produkt, eine Verrechnungseinheit oder ein Fetisch zum Beispiel, dann ist es auch wahr, dass kein Ding ganz Ware sein kann, nichts als Ware und nur die Ware: was unter anderem besagt, dass Sediment gewordener Besitz nur oberflächlich in die Warenwelt überführt werden kann und seine Eigentümlichkeit sich beim Besitzerwechsel vermindert, er sie schlimmstenfalls verliert. Das war seit jeher das Argument aller Konservativen, doch ausgehebelt ist es deswegen nicht, es sei denn, man wäre gewillt, alles Konservierende und Konservierte der Vernichtung preiszugeben. Was für Dinge gilt, gilt auch für Strukturen: der Funktionalismus ist ohne Funktionsminderung nicht zu haben, zumindest in seiner dynamischen Gestalt, die an die Stelle des dysfunktional Gewordenen das jeweils ›Funktionalere‹ setzen will. In der Welt der wirklichen und nicht nur formal gefassten Funktionen ist z. B. Geld
Geld und nicht nur ein Zahlungsmittel oder ein intermittierendes Element: etwas mit einer Geschichte, einer Ausdehnung, mit Form- und Gestaltmerkmalen unterschiedlichster Art, mit physischen und psychischen Tiefenwirkungen, mit Glaubensartikeln, ein wirklicher Überzug der wirklichen Erde. So etwas wirft man nicht weg, weil die digitalen Netze es, ökonomisch-theoretisch betrachtet, überflüssig machen oder machen könnten, falls ein entschiedener Wille so etwas ins Werk setzen sollte. Man wirft es ebensowenig weg wie einen Besitz, den man zwar erworben hat, aber, unter individuellen Glücks-Gesichtspunkten, nur zu geringen Teilen nutzen kann, während er sich in seinen Hauptmomenten als harter Stoff erweist. Besitz bindet, er schafft Licht, Wärme, Sinn, – eine Erbschaft auf der Suche nach ihren Erben nicht minder. Selbst im Untergang und Verfall setzt sie Kräfte frei, die sich an ihrem Ort realisieren, und sollte sich partout kein Ort finden, so gilt die in die Luft gezeichnete Signatur.
ERBSENZÄHLER
»Sie befinden sich praktisch auf
Erbsenzählergebiet«, erläuterte der Landvermesser im blauen
Kittel, »hier haben wir alles unter Kontrolle.« »Wenn Sie alles
unter Kontrolle haben, warum kontrollieren Sie dann so streng?« »Wir
können es uns nicht leisten, dass das Land außer Kontrolle gerät.«
»Wohin gerät das Land, wenn es außer Kontrolle gerät?« »An
seine Grenzen. Warum wissen Sie das nicht?« »Dann wäre das Land ja
leer und Sie hätten alles unter Kontrolle. Bis auf die Grenzen,
nicht wahr?« »Ich weiß nicht, was Sie damit meinen, aber ich
empfinde ihre Aussage als … ich will nicht sagen
grenzwertig
– aber mein Gefühl geht in diese Richtung.« »Sie fühlen,
was ich sage?« »Ich sagte, ich empfinde Ihre Aussage als
grenzwertig.« »Empfinden Sie noch mehr?« »Hören Sie auf. Sie
gehen zu weit.« »Das war es, was ich meinte. Der einzige Wert, den
Sie kennen, ist der Grenzwert.« »Das ist richtig.« »Kommt drauf
an.« »Jeder Wert setzt Grenzen. Das ist doch selbstverständlich.«
»Ihr Land muss besonders wertvoll sein.« »Wie kommen Sie darauf?«
»Weil Sie überall Grenzen ziehen.« »Das ist nicht wahr.« »Aber
eine Tatsache.« »Lügner.« »Aber da ist eine Schwierigkeit.«
»Die wäre?« »Je mehr Werte Sie produzieren, desto mehr müssen
Sie kontrollieren. Je mehr Sie kontrollieren, desto mehr Verstöße
registrieren Sie. Je mehr Verstöße Sie registrieren, desto größer
wird das Problem und desto mehr müssen Sie kontrollieren. Je mehr
Sie kontrollieren, desto gleichgültiger werden den Leuten Ihre
Kontrollen. Je gleichgültiger die Kontrollen werden, desto mehr
entgleitet Ihnen das Land und desto wertloser wird es für Sie.«
»Verlassen Sie mein Land!« »Ist es denn das Ihre?«
ERDBEWOHNER
Sie sind Getriebene des Planeten und wissen es nicht, sie halten
ihn für ein zu klein geratenes Geschenk und wünschen sich zum
nächsten Festtag ein größeres. »Behandelt es gut, man weiß nie, was
danach kommt.« Solch mütterlicher Rede sind sie hilflos
ausgeliefert, zur rechten Stunde kommen ihnen die Tränen.
›Erdbewohner‹ ist ein Wort wie ›Rittmeister‹; verständlich durch
langen Gebrauch, verrätselt es sich, sobald einer hinhört, als höre
er es zum ersten Mal.
ERFÜLLUNG

Humanisten haben sie einst verhöhnt und von leeren Tüten geredet,
die als Stiftung des Teufels den Mützen gleichen, die Seher im
Gefolge des Satans bemerkt haben wollen. In diesen Tüten stecken,
nach der Organisatione
della Armada Diaboli, tatsächlich die Häupter
seiner ersten Familie (er besitzt deren drei, nach der
Verstümmelung der Dreifaltigkeit): der Ankläger und Sykophanten,
das sind die Lieblinge der Könige und Demokraten, der Pragmatiker
und Rationalisten. Sie bilden die Fundamente der Wissenschaften und
des Bankwesens.
Immer wieder seit unendlicher Zeit, ruckweise, aber gelegentlich
auch in einem Zuge aufs Haupt gesetzt, ›erfüllen‹ sie gemäß einem
rätselhaften Kommando das exercitium antispirituale, denn ihre
Waffen sind (gleich denen aller ›Spitzbuben‹ – sic! – dieser Welt)
ihre flinken Köpfe, die sie stets aufs Neue bedecken, um wie Büßer
zu wirken.
So war es auch ein französischer Jesuit und Cornet seines Ordens,
der das Tütenkleben als Strafe in den Gefängnissen Frankreichs
eingeführt hat (das Cornetieren). Um die Gefangenen wie einst
Diogenes vor den Statuen der Götter im ›Nichtsbekommen‹ zu üben,
mussten sie sich jede hundertste Tüte ans Kinn kleben, um so
erniedrigt und beleidigt ihre Suppe zu löffeln. Napoleon schaffte
zwar diese Strafe ab, ersetzte sie aber durch das Kleben von
Edikten in Form von Pulverkartuschen, von denen sie jede zehnte als
Papilotte an bestimmte Haarsalons in Paris abliefern mussten. Die
Rue Papillote an der Place de la Pulvre legt von dieser Auflage
immer noch Zeugnis ab. - PM
ERHALT

Wer das Messer im Sack trägt, braucht für den Erhalt nicht zu
kämpfen. Welchen Erhalt? Heilige Einfalt! Ein Erhalt lässt sich nun
einmal nicht zerlegen, nur quittieren. Die Quittung fügt dem Erhalt
nichts hinzu außer seiner Ordnungsgemäßheit. Der Geber sichert sich
ab und der Abnehmer ist der Dumme, denn ihm obliegt hinfort die
Sorge um den Erhalt. Wir wissen nicht, ob er nächtens wachliegt,
weil der Erhalt ihn drückt. Was wir wissen ist, dass die Sorge ihn
zu befremdlichen Handlungen treibt. Seine Versuche, das Erhaltene
einzuhegen, sind rasch Legion. Gut dokumentiert ist die Geschichte
der Zäune, deren er sich bedient und von denen jedes Modell durch
das nachfolgende entwertet wird. Ein entwerteter Zaun ist zu gar
nichts nütze, etwa wie ein beiseite geworfenes Verkehrsschild oder
ein Wachhund, der sich vergnügt. Er muss aber entsorgt werden,
dafür ist das eingezäunte Gelände gut. So stapeln sich die Leichen
entsorgter Zäune, Zeichen einer immerfort verdoppelten Sorge, auf
dem ach so erhaltenswerten Grundstück. Wie bald verstellen sie den
Anblick des Himmels, der uns sonst so rührte, weil er der
Sorglosigkeit eine zugegebenermaßen flüchtige Bleibe verschaffte.
Schon zieht sie klagend über die Erde, nächtens hören wir ihr
Geheul.
ERINNERN

Da ist eine denkerische Aufgabe, die hält dich fest. Und da ist das
Erinnern, aufgegeben auch das, eine Aufgabe, meinetwegen, aber sie
hält nicht fest, sie lässt los, sie zwingt dich, loszulassen, nein,
das ist falsch, sie zwingt nicht, sie wartet. Sie wartet darauf,
dass du loslässt, Stückchen für Stückchen, Bröckchen für Bröckchen,
in die Netze hinein, ans Davonschwimmen ist nicht zu denken. Aber
in den Netzen herrscht keine Geborgenheit, ihre drangvolle
Verdichtung schafft keinen Raum. In ihnen herrscht Enge, sonst
nichts. Auch das ist zu viel gesagt, es herrscht der Nicht-Raum.
Der Nicht-Raum kennt keine Fläche, er kennt kein Außen, das in ihm
läge, er kennt nur das Außen, das unerreichbar bleibt. Dennoch
treiben die Netze, das Außen umspült sie, fast hätte ich gesagt,
von Ewigkeit zu Ewigkeit, aber das wäre nur eine Floskel. Sie
treiben dahin, da ist keiner, der sie birgt. Aber auch das ist ein
Wort, das den Widerspruch aufruft. Da steht er, eine Ampel auf
einsamer Strecke, sie könnte sich den Wechsel sparen und alle
Farben auf einmal anzeigen: Grün, Rot, Gelb, das wäre ein schöner
Zusammenprall, wenn mal jemand käme.
ERLÖSUNG

Sie wirkt auf verschiedenen Ebenen. Man kann befreit werden, was
der Erlösung nicht gleich kommt. Man kann von Fesseln, vom Schmerz,
von der Bosheit seiner Feinde und Feindinnen befreit werden, aber
erlöst werden ist etwas anderes. Erlösung ist nicht zu erleben,
denn sie ist eine Vorstufe des Ersterbens. Insofern ist der Sinn
dieses Wortes unter uns peinlich Unsterblichen aus der Mode
gekommen. Man hat die Stufen vergessen, die in die Leere führen, in
der die Erlösung, von einem jungen Drachen bewacht, dem Leben die
Stirne bietet. Denn mitten in diesem Licht gedeiht die blühende
Erlösung, die mit den Äpfeln der Hesperiden an ihren sechs
Luminarien jede gewerbsmäßige Schönheit der
Kunst in den Schatten stellt. Wehe dem
Haupt, das die Zahlung des Lebens an dieser Stelle verweigert. Das
Licht erlischt und der Besucher, der es vielleicht bis zum jungen
Drachen gebracht haben könnte, steht nun hinter dem Zelt eines
Marktplatzes auf verlorenem Posten. Vergebens sucht er ein Taxi,
denn er haust jetzt für lange Zeit in der dritten Natur und sein
Körper schwebt mühelos durch eine Gegend, die ihm das Zeitgefühl
nicht zum Erlöschen gebracht hat, ihn aber jahrhundertelang
festhalten könnte, obwohl er sie immer aufs Neue zu kennen glaubt.
- PM
ERLÖSUNG (2)

Die Erlösung ist zweigeteilt, sie wird gewährt, aber ebenso auch
erworben. »Oh, göttliche Teilung von Gnade und Wunsch« heißt es in
einem früher sogar von Freibündlern und in Studentenverbindungen
sehr gerne gesungenen Kanon der Serapionsbrüder, der leider den
stark verkürzten Messen zum Opfer gefallen ist, denn er war, der
Erlösung entsprechend, von fast unendlicher Länge. Männer und
Frauen, die sich erlösungsbedürftig wähnten, schlossen sich in noch
früheren Zeiten zu riesigen Chören zusammen und brausend stieg der
Wunsch in den Himmel, jedenfalls wenn die Zeit es erlaubte. In
Reims sang man einmal drei Monate lang während der Erntezeit ohne
Unterlass, und wenn nicht die Pest ausgebrochen wäre, sänge man
hier vielleicht noch immer. Aber kurz darauf drangen die Engländer
ins Land und von Johanna von Orleans hörte man damals noch nichts.
Man hätte Gründe gehabt, um Erlösung zu singen, doch die Zeit ließ
es nicht zu. Die Kollektive der Christenheit verbargen sich überall
und von gemeinsamen Chören im Schrei nach Erlösung war nichts zu
hören. Später kamen andere Völkerschaften und nach und nach auch
wieder die Pest, bis hin zu den Hugenottenkriegen und der Bluttat
der Bartholomäusnacht.
Ohne Gewährung durch höhere Mächte ist allerdings auch der höchste
Eifer sinnlos, und auf gut Glück trauen sich selbst unter
Inbrünstigen nur die wenigsten, in Reihenhäusern oder
Plattenbausiedlungen laut zu singen. Überhaupt ist der private
Gesang in Haus und Küche mit dem Erlöschen der Erlösungschöre
ebenfalls untergegangen.
Es gibt nun aber ohne den Willen, erlöst zu werden, keine Erlösung,
denn die Sache hat hier unfassliche Wurzeln. Unendlich vielen,
allzu vielen, bleibt der Erlösungswunsch stets nur ein Wahn,
eigentlich ohne den erhofften Ausgang. Zu viel muss geschehen, bis
Gewährung und Wille eins miteinander werden, und Erlösungswille ins
Blaue hinein ist oft nur ein kurzer Wunsch, immer erneut von Sünden
und Zweifeln unterbrochen. Mit ihnen im Gepäck kann niemand
Erlösung erwarten. Aber dieser Zustand mag ja noch angehen, er ist
wenigstens einleuchtend. Es gibt aber leider auch Fälle, in
welchen, dem Anschein nach, jedenfalls nach menschlichem Ermessen,
alles zusammenpasst und der berechtigte Schrei nach Erlösung
grausam, in unerforschlichen Ratschlüssen, niemals gewährt wird.
Das allerdings bezeugt dann, nicht ungeschickt für die unseligen
Materialisten, das Fortbestehen einer alten himmlischen Zerrüttung
im Vermögen über das menschliche Schicksal.
Kaiser, Könige, Päpste und Heilige haben vergebens Erlösung
herbeigefleht, hingegen empfing nach Pascal ein am Parktor
bettelnder Blinder, nichts weiter als ein namenloser Mann in
Lumpen, durch die Kutschenräder des nächstbesten Höflings den
schmerzvollsten Stoß gegen die Brust und zugleich eine grausame
Erlösung. Das wäre natürlich im Sinne des Christentums noch gerecht
und verständlich, aber der rohe Kutscher erlangte seine Erlösung,
ohne sie überhaupt je wie der Bettler erfleht zu haben, noch am
Abend durch den blitzschnellen und völlig schmerzfreien Huftritt
eines verhexten Rosses, wie Hans Baldung Grien es in Kupfer so klar
und deutlich gestochen hat.*
Man bleibt eben unbehext viel ahnungsloser als jenes Pferd, das
zwar voll glühender Bosheit, aber doch im Dienst der Erlösung
rückwärts blickt. - PM
*
Der behexte Stallknecht,
1544.
ERNEUERUNG

Erneuerung geht nicht ohne Abbruch vonstatten; große Freundschaften verwandeln sich unter der Hand in Zahnbelag, dessen Entfernung beim nächsten Arztbesuch ansteht. Ein Fall für die Gehirnforschung! Aber auch andere Disziplinen zeigen Ansätze des Helfersyndroms, sobald man sie darauf anspricht. – Tu’s nicht! Das Problem ist die Psyche. Immer wieder: die Psyche. Viele sehen in ihr (oder dem Postulat, das ihr ins wissenschaftliche Dasein verhilft) die Lösung, sie leben gut von ihr und können nicht von ihr lassen. ›Wie funktioniert das?‹ Gute Frage, gut, dass einer sie stellt. Was wäre die Psyche ohne ihre Analyse? Ein Problem. Und siehe da: sie ist ein Problem. Die Psyche ist das Problem der Psyche. Daran ist nichts geheimnisvoll. Der Mensch ist das Wesen, das seine Psyche vorschiebt, wenn es ihm schlecht geht. Ein glücklicher Mensch braucht keine Psyche. Erst die Zumutung, die er für seine Mitmenschen darstellt, erzeugt sie reihenweise. Psyche ist, was immer die Leute sich von ihr erzählen, unglückliches Bewusstsein, Leiden an einer unauflöslichen Spannung, sprich: Diskrepanz. Man kann auch sagen (und damit kommen wir der Sache allmählich näher), sie ist verhülltes Gottesbewusstsein: ein Bündel Probleme, das mit dem Streben der Seele zu Gott ins Leben tritt, sobald man die Tatsache dieses Strebens leugnet. Warum...? Manches geht, weil es geht, weil es den theoretischen Kropf füllt, einfacher gesagt, weil es das Bedürfnis nach Anschauung bei Leuten stillt, denen Theorie ein Buch mit sieben Siegeln darstellt. Deshalb kursieren auch unter den Liebhabern der Psyche die Anleitungen zum Selberbauen. Doch sieht man nur selten, dass wirklich so ein Drachen sich in die Lüfte erhebt. Was die Lust am Weiterbasteln nicht mindert: der unbeirrte Glaube an die eigenen Fertigkeiten (ein Irrglaube wie irgendeiner) erzeugt den Aushilfsglauben an Reparatur-Instanzen, die pünktlich bereitstehen, falls etwas nicht klappt. Erst wenn der approbierte Mechaniker den Daumen senkt, weiß gewöhnlich der Letzte: hier ist nichts mehr zu machen... ein Fall für den Schrottplatz. Warum? Es liegt am Glauben. Ein rechter Glaube kann, wenn er zusammenfällt, Freundschaft in Hass verwandeln, Nähe in Gegnerschaft, gemeinsame Überzeugung in erbitterte Frontstellung. Eine Freundschaft, der kein gemeinsamer Glaube zu Grunde liegt, verwandelt sich früher oder später in einen Straßenköter, den man, sobald keiner hinschaut, mit Steinwürfen verjagt: ein lästiges Wesen, das nicht zu einem passt, und zwar gerade dort, wo es einmal gepasst hat. Eine solche Freundschaft wird nicht gekündigt, sie wird gekappt. Soll sie doch schwimmen, wohin sie will, wie sie will, sofern sie will. Geht sie unter: auch gut, schade drum, Schwamm drüber.
ERNST
Es gibt Regionen der Ernsthaftigkeit, in die man nur im Scherz
vorstößt – nicht
zum Scherz, wie die Sprache abschließend anmerkt,
sofern niemand ihr widerspricht. Der stumme Ernst ist eine Figur,
die wenig zu denken gibt, da bereits alles gesagt ist. Man reicht
sich die Hand, eine angemessene Geste, die, wie alles, was dem
Entgleiten entgegen geht, es im Hinauszögern auslöst. Alle stürzen
sich in die Zukunft hinein, als sei sie aus einem schmiegsamen
Element, das überdies trägt; angesichts dieses Wahnsinns gibt der
Ernst den, der nicht mitkommt, eine Figur aus dem ewigen Gestern,
das sich ebenso erneuert wie alles, was ansteht. Man hält ihn für
bekloppt und alle lieben
ihn, er sich vermutlich auch. Man macht Scherze über ihn, das ist
wahr, und mancher amüsiert sich auf seine Kosten, aber das gilt als
ungehörig und verrät einen Charakter, mit dem alle können, unter
Vorbehalt, versteht sich.
E la
nave va.
ERREGBARKEIT

Die Erregbarkeit der Deutschen, dieses im Grunde phlegmatischen und, wie vielfach behauptet wurde, gutmütigen Volkes ist jüngeren Datums, soweit es um weltliche Dinge geht; in Fragen der Religion waren sie früh ein Verein von verzückten Dreinschlägern. Bei der erwähnten Erregbarkeit handelt sich um eine Art Rheumatismus, den sie sich zuerst in den Napoleonischen Kriegszügen zugezogen zu haben scheinen, einen Schmerz, der nicht weggeht und nach Überbehütung und Ausbruch zugleich verlangt. Die Quadratur des Kreises heißt Effizienz, nicht um eines Zieles oder einer Sache willen, sondern als Lebensfigur, die zwischen alle anderen tritt und sie scheucht. Im Grunde geht es darum, sich an die Spitze des Zuges vorzuarbeiten, aus dem Gefühl heraus, sonst rettungslos unter die Räder zu kommen. Was sie ›historische Erfahrung‹ nennen, ist der diffuse Schmerz, der sie zwingt, nicht stillezuhalten, sondern ›die Verhältnisse‹ zu ihren Gunsten zu wenden, als ob es genügte, die Kehrseite aufzuschlagen, um Entlastung zu erfahren. ›Entlastung‹: dieses Wort sollte man rot anstreichen, wo immer es in programmatischer Absicht begegnet – es sagt viel, wenn nicht alles über ein Lebensgefühl aus, das unter seiner eigenen Bürde keucht.
ERREGT EUCH!

Alle Welt interessiert sich für die Lüge; die Wahrheit, so wahr sie auch sein mag, ist ohne Belang. Man geht über sie weg, als verstünde sie sich von selbst. »Das mag schon so sein«, murmelt dein Gesprächsfreund, der Wahrheitsfanatiker, dann stürzt er sich ins Getümmel. »Alles Lüge!« So schreit er, das Gesicht gerötet, und klopft auf den Tisch. »Reg dich nicht auf!«, ruft seine Gattin. Sie fürchtet, dass er sich übernimmt. In Wahrheit liebt auch sie die Emphase. Erkläre den beiden, wie es ist, und sie verstummen. So ein schöner Tag! Jetzt ist er ruiniert. Doch nicht für lange – wie schnell so eine Wahrheit verdampft, man glaubt es kaum. Ein paar müde Sentenzen noch und der Sturm bricht los. »Eine dreiste Lüge!« kräht der Gesprächsfreund und glänzt vor Vergnügen. »Unglaublich.« Unglaublich, aber wahr: nicht die Lüge zählt, sondern die Dreistigkeit, mit der sie aufgetischt wird. Man soll nicht lügen, man soll dreist lügen. Ein zaghafter Lügner, das ist, als nähme einer es mit der Wahrheit nicht so genau. Wohin führt das? In jeder dreisten Lüge steckt ein Führungsanspruch, der will heraus. Die Erregung bindet den Menschen, wer führen will, muss erregen. Was lässt sich noch leichter erregen als Wahrheitsgefühl? Das Geschlecht. ›Und wenn er Recht hätte? Wenn er doch Recht hätte? Was dann? Alt sähe man aus. Hässlich sähe man aus. In jeder Lüge steckt eine Wahrheit, die mich besitzen will, mich ganz allein. Die anderen laufen dem Lügner nach, ich weiß, wo er Recht hat und finde: er ist mein Mann.‹ Er ist eine Frau? Na dann: Nichts wie hinterher!
ERWARTUNG

Du befindest dich in einer sonderbaren Lage: fast wie der gläserne Mensch, aber doch anders, verstellter. Angeschossen von einer Seite, jedenfalls blutend, unfähig, dich zu halten, von der anderen Seite fixiert durch ein System aus Stützen, deren Möglichkeiten sich weitgehend darin erschöpfen, dass sie sich gegenseitig in der Lage halten, die dir zu nützen scheint, aber nur für den Augenblick. Du weißt (wie man diese Dinge weiß): sobald du dich anlehnst, fällt alles zusammen. Und doch wirst du gehalten, darüber besteht kein Zweifel. Nicht, dass du Halt fändest, du suchst ihn nicht einmal, schon diese Bewegung wäre gefährlich und führte vielleicht zum Kollaps. Aber die Erwartung: sie lässt sich nicht abstellen, du findest den Schalter nicht und, ehrlich gesagt, du bist keineswegs wild darauf, ihn zu finden. Eher erwartest du, dass die Dinge sich ändern. Diese Änderung, davon bist du überzeugt, kann nur von innen kommen, aus einer Ecke jener unbestimmten Region, in der du dich vermutest oder deinen Gott oder ein dir treu ergebenes Wesen, das vielleicht nicht dich meint, sondern etwas, das durch dich hindurch in die Wirklichkeit eintritt oder einsickert oder eingreift. Nein, Medizin wolltest du es nicht nennen. Die Vorstellung, einen Eingriff vorzunehmen, hat etwas hoffnungslos Übertriebenes, weder passt sie zu deiner Lage noch zur Wirklichkeit draußen. Ehrlich gesagt, diese Wirklichkeit besteht fast nur aus Eingriffen, auf jeder Narbe sitzt eine frische Wunde, Schläuche, wohin man blickt. Ein paar davon, soviel weißt du schon, warten auf dich. Lass sie warten, denkst du, solange meine Mission nicht erfüllt ist, werden sie mich schon meiden. Darin steckt natürlich der Fehler, denn was eine Mission ist, das bestimmt sich dort draußen. Du bist nur ausführendes Organ. Als solches wird man dich warten. Aber so ist es nicht, nein, so ist es nicht.
ETHIKSCHWUND

Die den Ethikschwund öffentlich beklagen, haben es leicht, denn sie
haben die Eisbären auf ihrer Seite. Die Eisbären sind für die
Ethik, die ihnen nur Vorteile bietet. Sie selbst besitzen keine,
also kann ihnen niemand vorwerfen, sie suchten nur den eigenen
Vorteil. Im Gegenteil: erst der Vorteil aller verschafft ihnen das
kalte Plätzchen, das sie fürs Überleben brauchen. Eisbären leben
von anderer Leute Ethik wie diese vom Tran der Wale. Kein Eisbär
hat je die Kälte vergessen, aus der seinesgleichen kommt. Man
könnte sagen, er schmilzt unter der glühenden Sonne der Arktis wie
ein Stück Erz im Hochofen der Stahlköche. Nur den stählernen Eisbär
wird es aller Voraussicht nach nicht geben. Die Evolution
verweigert ihm diesen letzten, alles entscheidenden Dienst und
schleudert ihn ins Dunkel der zoologischen Anstalten, wo er sich
wohl fühlt, aber manchmal ein Reißen verspürt, wenn er zwischen den
Besuchern die kleine Meerjungfrau sieht, die es ins Wasser zieht,
die aber tapfer dagegen angeht. Solche Tapferen kennt er, sie würde
er gern zerfleischen.
ETHNION
Nur unbedeutende Menschen verwechseln Nation und Ethnie, bedeutende machen die Gleichung auf, wenn sie ihnen in den Kram passt, und räumen sie aus dem Weg, sobald sie lästig wird. Warum gibt es sie überhaupt? Weil sie gebraucht wird, kein Zweifel, und zwar auf beiden Seiten. Für die unbedeutenden ist sie eine Sache der Ehre (also des Familiensinns), für die bedeutenden ein billiger Motivator, der Heißsporne generiert, und zwar am laufenden Band – man muss, so denken sie, nur die kruden Figuren aussortieren und laufen lassen, dann läuft alles Weitere wie geschmiert. Da die Gleichung stets positiv
und negativ besetzt ist, fällt es leicht, über sie auch größere Massen zu steuern. Wer daraus partout schließen will, dass die Nation, um handlungsfähig zu sein, ihrer bedarf, der steht mit seinen Gedanken bald allein. Er hat etwas gesehen, was keiner sehen sollte, der nicht in den Zirkeln der Macht zu Hause ist, er steht im Verdacht, etwas auszuplaudern, was man besser verschweigt. Dabei hat es keine Gefahr: das wirkliche Geheimnis besteht darin, dass es niemanden außerhalb jener Zirkel interessiert. Warum das so ist?
EUROFUGIUM

Fühlen Sie sich nicht wohl? Haben Sie Kopfschmerzen, wenn Sie die Straße betreten? Fühlen Sie sich nass, beschmutzt, unwürdig, eine degoutante Erscheinung? Kommen Sie mit der Miete nicht zurecht? Haben Sie Sorgen? Handfeste Sorgen? Glauben Sie nicht an das Gute im Menschen? Wünschen Sie einen festen Halt? Wollen Sie vorankommen? Verachten Sie Kettenraucher? Brauchen Sie einen Stoß in die Rippen? Fürchten Sie Schicksalsschläge? Haben Sie Angst vor Gewalt? Macht es Ihnen nichts aus, Ihren Nachbarn zu beleidigen, solange Sie sich durch Recht und Gesetz geschützt fühlen? Operieren Sie gern aus dem Hinterhalt? Schlafen Sie oft? – Keine Bange, das ist kein Fragebogen, das ist ein Aufruf. Willkommen! Sie sind gewählt – ja, gewählt! –, Sie sind ein Kandidat, nein, Sie sind mehr, Sie sind aufgenommen ins Eurofugium, nur herein, hier schneit es nicht, hier können Sie Ihren Mantel ablegen und sich an einem Feuer wärmen, das andere für Sie entfacht haben, das Eurofeuer, das jeden erfasst, der sich mit ihm abgibt, und nicht nur zur Nachtzeit. Sie glauben mir nicht? Dann sehen Sie selbst: Sehen Sie, wie sie brennen und schmoren, die Euroskeptiker, hier rechts, diese lange Reihe, das wird sie Mores lehren. Und hier links, sehen Sie, der gegenteilige Effekt: ein Leuchten geht von diesen Menschen aus, das die Welt erhellt und ihre Seelen wärmt bis hinein in die Fingerspitzen. Der so geschäftig zwischen ihnen einher eilt, Küsschen links, Küsschen rechts, ist Juncker Valand, der fahle Gesell, hier hat er sein Auskommen gefunden und kann endlich beweisen:
Etwas Besseres als den Tod findest du überall. Im Eurofugium gehen die Lichter nicht aus, es ist immer Tag- und Nachtzeit, eine Zeit für alle, Eurozeit, hier gehen die Uhren anders als anderswo, bleibt eine stehen, schubst die andre sie weiter. So geht das hier. Haben Sie Kinder? Im Eurofugium können Sie alles ablegen, auch die Sorge um Ihren Nachwuchs, das klingt doch praktisch, oder? Hier spielt die Zukunft, sie spielt wirklich, manche sagen, sie spielt Zukunft, aber das ist natürlich Wortklauberei. Leiden Sie unter Wortverlust? Im Eurofugium erhält jeder seine passende Sprache ausgehändigt, nur anwenden muss er sie selbst. Was sagen Sie dazu? Ich wüsste nicht, was praktischer wäre. Wollen Sie eine Kostprobe? Gehen Sie ins Internet und besuchen Sie uns da. Und jetzt: Schlafen Sie! Schlafen Sie, das gibt eine schöne Haut.
EUROKRATES
Wäre ich
Eurokrates, ich ließe es krachen, dass der Kontinent bis in die
Grundfesten erbebte. Ach was Grundfesten! Bis in die Haarspitzen
sollte erbeben, wer noch nicht weiß, was die Stunde geschlagen hat.
Erbleichen sollte die Gilde der Euro-Leugner, ihre Schreibfinger
verfaulen, ihre Stützstrümpfe abfallen, ihre Bandagen sich
verhärten bis zum Verhängnis. Eurokrates sein, das wär’s. Wer
über Europa herrscht, was kümmert es ihn, wer in
Europa herrscht? Ich aber, ich wollte nicht
über Europa
herrschen, ich wollte nicht
in Europa herrschen, ich wollte
Europa
anherrschen,
ich wollte ihm beibringen, Europäer zu
machen, wie noch niemals Menschen gemacht wurden. Sie
schmunzeln? Oh, Sie verkennen mich. Ich will keine Europäer aus der
Retorte, ich will keinen Extra-Sex für Zeugungsbeflissene, was ich
will, ist Klarheit: Klarheit in den Köpfen und untenherum. Der
Europäer der Zukunft wird rechtdenkend oder er wird gar nicht sein.
Dieser Satz ist von mir und ich gebe ihn nicht aus der Hand. Auch die
Taube auf dem Dach kann ihn mir nicht entwinden. Was treibt sie
überhaupt dort? Herunter mit ihr! Oder fort! Da fliegt sie schon.
Scheiße. Eine Scheiße ist das. Nicht reiben, das ätzt sich ein.
Unter Rechtdenkenden will ich der erste sein,
Number One. Ich
säße zwischen den Meinen, das heißt zwischen allen, die meinen,
was ich meine, und meinte dasselbe. Wir alle meinten dasselbe, alle
Tage unseres Lebens, immer dasselbe. Zum Beispiel hätten wir alle
dieselbe Vereinsbank und dasselbe Geschlecht, jeder seins und jeder
dasselbe, ganz so wie diese Eurostecker, die in jede Steckdose
passen. Da gäbe es viele Beispiele. Unendlich schön müsste das
sein. Nur bei der Sprache müssten wir nachlegen, diese dauernde
Übersetzerei macht einen ganz konfus. Ich, Eurokrates, spräche gern
gleichzeitig in allen Zungen des Kontinents, das gäbe zwar ein
Geplärr, aber digital ließe sich bestimmt was draus machen. Also
doch der Euro-Chip, ich wusste es gleich, nur die Begründung fiel
mir nicht ein.
EURONAGEL
Das strategische Genie Helmut Kohls zeigt sich unter anderem darin, dass er die deutsche Sozialdemokratie nachhaltig ans Kreuz des Euro genagelt hat: als erste staatstragende Partei Europas, die der Nation den Rücken kehrte, um sich dem Aufbau dessen zu widmen, was sie hartnäckig ›Europa‹ nennt (oder besser: genannt bekommen hat, denn dieses Europa ist und bleibt ein Zusammenschluss zu klein gewordener Volkswirtschaften, in dem die Weltkonzerne und ihre Ableger im politischen Showbusiness das Sagen haben), kann sie nicht anders als in jeder Krise
mehr Euro verlangen, sprich: mehr Zusammenschluss, mehr Kompetenzübertragung, mehr Schuldengemeinschaft, weniger Souveränität und damit weniger Bürgerkontrolle und weniger Demokratie – ein Teufelskreis, dem gegenüber die wahren Verursacher der Misere, die für sie keine ist, mit gewichtiger Skeptiker-Miene zu Vorsicht und Zurückhaltung raten, um die entscheidenden Züge im Halbdämmerlicht einer sogenannten Notwendigkeit vorzunehmen, weil nun einmal getan werden muss, was auf wundersame Weise unumgänglich wurde, ohne dass eine ernstzunehmende Opposition sie behelligte. Das betrogene Wahlvolk lässt seinen Verdruss eher an den betrogenen Betrügern aus als an den Urhebern des Betrugs – nicht etwa, weil es unfähig wäre, ihn zu durchschauen, sondern weil es von ›der Politik‹ erwartet, dass sie Lösungen auffährt und nicht Verschlimmbesserungen das Wort redet, bloß weil es irgendwo ideologisch klemmt. Dabei lässt das Volk sich liebend gern selbst ideologisch vereinnahmen, solange es nur weiß, wer die Prügelknaben sind und wie man sie züchtigt. Seit klar wurde, dass die Fehlkonstruktion des Euro allein durch eine auf demokratischen Wegen nicht zu erreichende europäische Staatsgründung zu heilen ist, wissen die Leute, dass die SPD nur mehr als Beiboot mitläuft, auf dem eine Notbesatzung durch Fuchteln den Eindruck zu erwecken sucht, sie zöge den Ozeanriesen EU hinaus in die Freiheit der Meere. Kein Wunder, dass die Parteileute mit dem Begriff ›Volk‹ nichts mehr anfangen können und über jeden herfallen, der ausspricht, was die Spatzen von den Dächern pfeifen, als sei er soeben dem Schlund der Hölle entstiegen, die abgeschafft zu haben sie sich seit langer Zeit rühmen.
EUROPÄER, GUTE

All diese guten Europäer, die Worte von Toten im Mund führen
und einen gemeinsamen ›Erinnerungsraum‹ herbeten, an den sich so
keiner erinnert, denn er ist, was immer man sagen mag, konstruiert,
sie mogeln ein wenig, wenn man so will, diese guten Europäer. In
Wirklichkeit fühlen diese guten Europäer sich abgestoßen von der
Enge, der Muffigkeit, der Politik und den Schikanen des Erdteils, das
sie umgibt, und warten sehnsüchtig auf die nächste Einladung nach
Princeton oder Dubai. Wären sie die Europäer, als die sie sich
ausgeben, so arbeiteten sie still, energisch und umsichtig an der
europäischen Nation, an der Gründung der Republik Europa – um genau
zu sein, sie selbst begriffen sich als europäische Öffentlichkeit und
setzten alles daran, diese halb private, von müßigen Institutionen
gesponsorte Fiktion ernsthaft umzusetzen, auf die Gefahr hin, von
notorischen Schulterklopfern halbtot geschlagen und auf offener
Straße liegen gelassen zu werden. Aber gerade das ist ihnen
verwehrt, es wäre ›zu leicht‹, es würde den Traditionen Europas
nicht gerecht. Sie sollten bedenken, dass jene früheren, allzu
wenigen ›guten Europäer‹, die
vor den großen Katastrophen des
Kontinents in Erscheinung traten, einer kulturellen Gemengelage
angehörten, die geradewegs auf die Katarakte zuhielt, dass fast
alle, darunter die ›Besten‹, von denen man hin und wieder
schwadronieren hört, mitdestruierten und dass das heutige Europa
der Normierer und Augenwischer, das sie im Unernst ablehnen und
wortreich ›weiterbringen‹ wollen, sich jenen Katastrophen
›verdankt‹ – ihren Fakten und ihren Lehren. Europa wird Nation oder
Wirtschaftsstandort, also nichts Besonderes sein.
EUROPLEM

Europa hat ein Problem. Da lachen die Auguren und rufen: eines? Europa ist ein Problem. Welches Problem haben Sie denn im Auge? Wovon reden Sie? Aber reden Sie weiter, reden Sie einfach weiter. Dürfen wir Ihnen weiterhelfen? Nun gut, wenn Ihnen der Sinn nicht nach Reden steht, versuchen wir es anders. Wann haben Sie das letzte Mal an Europa gedacht? Nein, das ist wichtig, glauben Sie uns, wir halten Sie nicht mit Kleinigkeiten auf. Woran haben Sie gedacht, als Sie das letzte Mal an Europa dachten? Das kommt ins Protokoll, aber es ist wichtig. Sicher kennen Sie unsere Fahne, die mit dem dürren Männchen als Fahnenmast, übersteht jeden Sturm: Wie finden Sie das? Haben Sie jemals daran gedacht, sich so ein Fähnchen … irgendwo … hinzustecken? Das nützt doch nichts, grob zu werden, das bringt uns jetzt nicht weiter. Wie haben Sie an Europa gedacht? Wie? Wie! Auf welche Weise! Wie? Sie wissen nicht –? Eine Weise wäre zum Beispiel, Sie vergössen Tränen bei dem Gedanken an – jaja sicher, auch bittere Tränen, dann wären Sie ja schon Europäer, wenn auch enttäuschter, wir dachten jetzt mehr an Tränen der Rührung, warme Kullertränen, Sie wissen schon, beim Gedanken an all die Beitrittskandidaten, die Schlange stehen vor dem gemeinsamen Haus…
Nein? Sie sind beleidigt? Persönlich beleidigt? Von all dem Undank, den die Beitrittskandidaten von gestern absondern, seit sie aufgenommen… Stört Sie das wirklich? Was haben Sie gedacht? Wer ein Haus baut, befragt er den verbauten Stein, ob er tragen will? Wie, Steine schimpfen nicht? Hören Sie nicht die Hilfeschreie aus dem Gemäuer, sobald Sie ein Haus betreten? Was hören Sie überhaupt? Gespenster? Die Ewiggestrigen, die Untoten, die Wiedergänger, die Altlasten? Sehen Sie, das haben Sie schön gesagt. Sie sind doch einer von uns. Vom gleichen Schlag, wenn Ihnen das etwas sagt. Europa ist keine Schöpfungsgeschichte, die sich in sieben Tagen abhandeln lässt. Das Abhandeln, sehen Sie, das ist auch so eine Sache. Wir handeln den Ländern die Seele ab und schicken sie in die Wiederaufbereitung. Wie bereitet man Seelen auf? Ganz einfach: Man imprägniert sie mit Schuld. Europa ist ein Schuldtraum, wussten Sie das nicht? Was gestern noch einfache Sorge ums eigene Fortkommen war, ist heute schuld am Verblassen des gemeinsamen Traums. Warum verblasst er so schnell, der gemeinsame Traum? Die Schulden, lieber Freund, die Schulden!
Was ist das geeignetste Mittel, die Bande zwischen den Menschen zu lösen, Partner gegeneinander zu hetzen, Eltern und Kinder zu entzweien, gewachsene Freundschaften in veritable Feindschaften zu verwandeln, die Kommune, die Region, den Staat in Misskredit zu bringen? Schulden natürlich! Schulden verbinden, sie schweißen zusammen, sie dulden nichts zwischen sich und den Schuldnern, alle aus einem Haus, dem gemeinsamen Haus … damit, sehen Sie, sind wir beim Thema. Schulden fressen Gemeinsamkeiten auf und scheiden sie als Verbindlichkeiten wieder aus. Dieses Europa, das wir lieben, ist so verbindlich geworden, dass manche angefangen haben sich umzudrehen und »Scheiß-…« zu murmeln. Verstehen Sie das? Dann fangen wir wieder von vorn an. Wie verbinden Schulden? Ganz einfach: sie nötigen zu gemeinsamem Handeln. Das ist ein hohes Gut, dessen Einlösung von Europa immer erwartet wurde. Wissen Sie, was ›Einlösung‹ bedeutet? Denken Sie nach! Sie besitzen einen Gutschein und wollen ihn einlösen, das ist Ihr gutes Recht, dafür wurde er ausgestellt. Sie haben ihn ja bereits bezahlt, auf die eine oder andere Weise, vielleicht wurde er Ihnen geschenkt, dann wissen Sie vielleicht nicht so genau, womit Sie ihn bezahlt haben – Ihr gutes Recht, Ihr gutes Recht, wer wollte da rechten. Ihr Gutschein lautet auf gemeinsames Handeln, nicht in den blauen Tag hinein, sondern aus einer Not heraus, im Notfall, dergleichen soll vorkommen.
Und jetzt, sehen Sie, passiert etwas Grundeuropäisches: Sie finden sich wieder in einem Kreis von Freunden, die sagen: Wir wollen ja helfen, wir werden auch helfen, aber sehen Sie, als wir diesen Gutschein ausstellten, dachten wir an andere Fälle, die Ihnen jetzt nicht so wichtig erscheinen mögen, aber uns scheint es jetzt an der Zeit zu sein, sie anzugehen. Gerade jetzt, Sie verstehen? Wann, wenn nicht jetzt? Wie, Sie verstehen nicht? Sie Schuft! Sie erbärmlicher Schuft! Sie haben unser aller Europa niemals verstanden, Sie sind keiner von uns. Hinaus mit Ihnen! Und wenn schon nicht hinaus, dann an den Rand, ganz an den Rand, aber dalli. Schämen Sie sich. Jawohl, schämen Sie sich. Sie sind kein Europäer, Sie beschmutzen das gemeinsame Haus. Aber bitte, helfen Sie sich selbst. Wagen Sie es ruhig! Sie wissen, wir sind auf der anderen Seite, wir werden Sie nicht daran hindern zu tun, was in Ihren Augen getan werden muss, wir werden nur die Mittelflüsse ein wenig ändern, das wird Sie in Schwierigkeiten bringen und wir werden weiter sehen. Diese Mittelflüsse … Europa ist eine Geldverteilungsmaschine, sie generiert den Kredit, den seine Mitglieder verbrauchen, um Europa in Misskredit zu bringen – ein Wettlauf, der an den Toren des Weltalls endet. Nicht alle wollen das begreifen und rennen hinaus.
EUROSKEPSIS
Leicht lässt sich über jene angeblich rückwärtsgewandten Europäer höhnen, die das europäische Staatsvolk vermissen und deshalb vom Projekt des Super-, Post- und Trans-Staates Europa in Gedanken vorerst ein wenig Abstand nehmen. Dabei sind sie mehr Europäer als ihre Denunzianten, denen es bloß um Lenkungskompetenz und globale Stärke geht. Sie stellen nicht den ›Prozess Europa‹ in Frage (wie man ihnen nachsagt) oder gar den Gang der europäischen Dinge im globalen Machtpoker. Zwischen – erlaubtem –
Befragen und dem berüchtigten
In-Frage-Stellen liegt ein Abgrund an Ignoranz, der täglich mit gedroschenem Stroh gefüllt werden muss. Zwielichtig wirkt schon der Ausdruck ›In Frage stellen‹. In ihm paaren sich zwei Forschheiten, die publikumssüchtig nach Klicks und Auflagen schielen. Einer Sache auf den Grund gehen und sie von Grund auf zerstören wollen sind sehr unterschiedliche Handlungen. Zusammen fallen sie nur, wenn der Grund um der Sache willen nicht aufgedeckt werden darf –
um keinen Preis sozusagen, weil jeder Preis hier zu hoch wäre. Europa, hieße das, dieses Lieblingskind der Eliten, vertrüge es nicht, würde man ihm öffentlich auf den Grund gehen? Auf dem Grunde des Allerweltsprojekts Europa schlummerte möglicherweise ein Arkanum? Die Pazifizierung, Zivilisierung, Demokratisierung, Emanzipierung, Nachhaltig-Machung und Selbstbehauptung Europas berge ein Geheimnis, das nur einer ausplaudern müsste, um sie zu Fall zu bringen? Seltsam, seltsam.
Aber welches Geheimnis könnte das sein? Eines, in dessen Besitz ein Frager eher die Träger von Springerstiefeln vermuten dürfte als jene vielberufenen Bürger Europas, die inmitten aller Projekte gelassen ihren Geschäften nachgehen? Welch ein Unsinn, möchte er ausrufen. Doch dann erinnert er sich –: am Ende bergen auch Springerstiefel ein Geheimnis. In ihm, das verdächtig einem Geschäft zum beiderseitigen Nutzen ähnelt, versichern sich Europas Funktionseliten und seine Unbelehrbaren gegenseitig ihrer Unabdingbarkeit. Die Zwangszuweisung der Skepsis ans Lager von Leuten, die nicht einmal wissen
wollen, wie man sie buchstabiert, gleicht ihrer Expatriierung. Warum das Ganze? Weil niemand erfahren darf, dass der
feine Nationalismus die geheime Triebfeder jener Funktionseliten ist und auf absehbare Zeit bleiben soll?
So zu reden gilt als unfein, als unerhört und, selbstverständlich, realitätsblind. Schließlich lernen alle voneinander und übereinander. Jeder liebt seine Gremien und Symposien und kehrt angeregt wieder nach Hause zurück, zu gleichen Teilen beeindruckt von der Offenheit wie der Blindheit des Nachbarn. Aus beidem ergeben sich Chancen, die man nicht auslassen sollte. Was für eine Situation! Was ließe sich daraus machen! Nun, ganz einfach: genau das, was daraus gemacht wird.
It’s the education, stupid.
EUROTON

Europa kann sich nicht auf sich beschränken, es geht überall über
sich hinaus. Das macht es zu einem bizarren Erdteil für andere und
endlich, auf seine Binnenräume zurückgeworfen, auch für sich
selbst. Es kennt nur eine Lage und die ist, wie die Nietzscheaner
sagen, exzentrisch. Daneben kennt es tausend Lagen dank einer
Auslegungssucht, die noch jeden Dialog der Kulturen in eine
Simulation zu verwandeln gewusst hat. Europa redet mit sich selbst,
es redet ununterbrochen mit sich selbst, aber dazu bedarf es der
Illusion einer in Rede stehenden Welt. Die Aufforderung, über
Europa zu reden, bedeutet, den Sprechfluss zu unterbrechen und den
Simulationen schlitzohriger Politiker das Feld zu überlassen.
Warum das so ist? Es ist so geworden und es wird auch wieder
weggehen, aber abzusehen ist davon nichts. Was nützt es, den
Universalismus als Ethnozentrismus zu denunzieren, wenn dieser
Ethnozentrismus nur ein Universalismus ist (eine Anleitung zur
Selbstaufhebung oder ‑vernichtung)? Nicht viel, wie die Erfahrung
lehrt. Seit Europa sich in den Schutz einer Weltmacht begeben hat, lebt
es bequem vom natürlichen Reichtum der anderen an Waffen, Öl, Geld,
Arbeitskraft etc. Die Geschichte hat ihm gezeigt, was auf diesem
Feld möglich ist, Europa liebt die Geschichte. Dass es zur
Einwanderungszone wurde, hat seine Sucht nicht gemindert. Natürlich
nicht, in Einverleibungen kennt es sich aus. Schließlich heißt
seine Gefahr, wie fast alle wissen,
fast food.
EXPERIMENTUM MUNDI

Wer die Wege des Eros als eine ›Kette von Demütigungen‹ erfährt und
darüber im Tonfall dessen berichtet, der das Weiterlesen so satt
ist, dass er sich mit einem Schnitt davon trennen möchte, ist
entweder auf dem Weg zum Heil oder auf dem Holzweg. Das
Experimentum carnis ist Teil jenes größeren Experimentum mundi, in
dessen Zentrum die Immanentisierung oder ›Verweltung‹ steht, wie
ein aus Funk und Fernsehen bekannter Vordenker das nennt: das
Aufgehen aller Gedanken, aller Begriffe in einem Weltbegriff, der
sie nicht nur enthält, sondern rechtfertigt und Instrumente für
eine neue Menschheit aus ihnen – ja was denn? Werden, entstehen,
entspringen lässt? Ein großes ›Fiat‹ prangt über dieser Art des
Philosophierens, die sich antimetaphysisch nennt und das
Wiederkäuen ins Zentrum des Nachdenkens verschoben hat. Nachdem die
Begriffe der Metaphysik den Dienst quittiert haben, steht das Wort
›metaphysisch‹ wie eine Vogelscheuche im Raum, ein nebulöser
Stellvertreter und zugleich ein kerniger Bursche, der Wind und
Wetter trotzt und für jede Flegelei zu haben ist. Vielleicht kommen
Nächte, in denen er vor Erschöpfung umfällt oder weil der Boden um
ihn zu weich geworden ist, aber sobald der Morgen graut, haben ihn
unbekannte Helfer aufgerichtet und er reckt seinen Stecken zum
Himmel – priapisch vielleicht, wer kennt schon die Wege des Heils.
EXPLOSION

Der Ottomotor ist ein vortreffliches Beispiel für die technisch
gereizte Wut der Materie zur Gewinnung von Energie. Ströme der
Raserei durchfahren die elektrischen Leitungen und entzünden ebenso
Lichter wie Bomben. In diesem Sinne ist Rache oder der Schmerz der
Materie das wesentliche Prinzip der gewonnenen Energien. Vertieft
man diesen Gedanken, so geraten auch Speisen zur Todesmaterie des
Menschen. Der beißende und kauende Mensch vervielfacht motorisch
die Kräfte verspeister Pflanzen, so harmlos sie auch zuvor an der
Sonne gewachsen sind, wobei natürlich auch sie die Sonne um ihre
Kräfte gebracht haben, und jeder Apfel verdient eine hübsche kleine
Bombe genannt zu werden. Insofern ist selbst der
Stoffwechsel des Menschen
nichts als eine fortwährende Kette von Explosionen.
Hier übrigens begegnet die Folgenforschung unmittelbar der
Todesmechanik, die durch
Leben und Streben Schicksal stiftend
zur Explosion gelangt.
Homomaris hat diese Durchkreuzung
von
Karma und Energie
einmal »die große Explosion des Leibes und der Seele« genannt und
damit den Thanatoskomplex Sigmund Freuds bedeutend
weiterentwickelt. - PM
FALSCHE FUFFZIGER

In den Fünfzigern blühten die Blumen anders, sie trugen Handschellen und seufzten, ob jemand sie aufschließen wolle, doch es war niemand da. Es war niemand da. Die Blumen hätten sich vielleicht selbst befreien wollen, wären sie zahlreich genug gewesen, aber sie waren sich ihrer kollektiven Stärke noch nicht bewusst und so blieb es beim individuellen Protestlook. Traurige Zeiten. Der Briefträger kam in Schwarzweiß, nur die Socken lugten ein wenig heraus, und wenn sie auch noch nicht rot waren, so guckten sie doch unsäglich genug unter den amtlichen Stulpen hervor, um in Träumen wiederzukehren, die sehr verbreitet waren: Sonne, Strand und Meer, eine Kinderschippe in der Hand und viel Sex. In den Fünfzigern war unter der Decke des Schweigens der Sex so verbreitet, dass viele sich Taschentücher unter die Nase banden, um dem Geruch von verbranntem Obst auf der Straße zu entgehen. Heute kann man lesen, die Sache sei damals zu neu gewesen, um ihre Folgen richtig abschätzen zu können. Überhaupt sei man sehr unaufgeklärt an sie herangegangen. Vermutlich stimmt das sogar. Den Alten war die Lust vergangen und den Jungen wuchs sie zu den Ohren heraus. Wohin sie wohl wuchs? Zu den Sternen, den Sternen.
FALSCHHEIT

Die gewöhnlichen und ältesten
Fälschungen finden sich schon
bei den unbekannten Kopisten in den Höhlen von Lascaux. Ein
bedeutender Bison, von stattlicher Höhe und ausschweifenden
Hörnern, wird dort bereits, wenige Schritte weiter, von schamlosen
Kopisten schlecht und recht wiederholt. Nun hat er eng stehende
Hörne, Knickbeine und einen Stummelschwanz. War diese Fälschung
eine Bosheit oder der bis heute bekannte gescheiterte Ausdruck
eines gerissenen Ehrgeizes? Gab es schon damals die ersten,
vielleicht noch seltenen falschen Künstler, die schlau genug waren,
den gefährlichen Jagdkollektiven zu entgehen, um Malerfürsten zu
werden? Was kann van Gogh gemeint haben, als er auf dem Sterbebett
sagte: »Das Elend wird nie ein Ende haben.« Hier kommt das
›Fürchterliche‹ hinzu, denn fürchterlich ist im Sinne seiner
Erscheinung das Zentrum jedes Schreckens auf Erden, genau wie die
Sonne, die der Maler gemalt hat. Seine Seligsprechung, seit einiger
Zeit von
Grabbeau und
mutigen Belgiern bei vier Päpsten vergeblich versucht, gibt der
Sonne das böse
Leben
zurück. Denn bildet die Sonne das Leben, so ist sie schon furchtbar
genug. Aber sollte sie mit dem drehbaren Rücken zum All erst
lebendige Tote spenden wie in den frühesten Zeiten Gottes, so
bedürfte sie weder Wiesen noch Äcker zu deren Wachstum, sie könnte
hinabsteigen gleich einem toten Gott und sich niederlegen in einem
Feuerschweif so groß wie der Rhein. - PM
FÄLSCHUNGEN

Auf schweren Teppichen, womöglich sogar hinter täuschenden
Butzenscheiben der ächzenden Welt der ohnehin noch ganz anders
Betrogenen ein paar bunte Streiche zu spielen und neben einem im
Orient eingelegten Tisch voll kostbarer Farben und Meißentassen im
Sessel sitzend mit dem Pinsel zu lügen, das ist wahrhaftig ein
genußvolles Treiben. Wenn ein freundlicher Gott wie der Gauner
Merkur dazu einen Dauerregen aufs Dach prasseln lässt, so ist kein
Besuch zu erwarten und die Leute bleiben in ihren hässlichen
Häusern buchstäblich stecken, denn der Klingelton entsetzt doch
wirklich jeden frei gewordenen Menschen. Kein Kind auf der Straße
schreit und man wiegt sich im Rausch eines rumänisch-ungarischen
Adelstitels von glühender Farbkraft zu den Klängen eines
berauschenden Preußischen Marsches. Der Titel, ob falsch oder
nicht, wird nach Goethe so manchen Puff abhalten können.
Wen alles das und Verwandtes und anderes mehr als tiefe Erkenntnis
vom Wert der Lüge im Wesen der Kunst ganz rein und ohne Ehrgeiz
berauscht, der ist, nach meiner Meinung, zum wahren Fälschen
geboren, ob er nun bloß kopiert oder als großer Erfinder in eigener
Sache Maler genannt werden darf. Denn man sage mir was man will,
jeder Künstler ist stets auch ein Fälscher, voll glühender Lust
nach der Manifestation eines fremden oder selber erfundenen
Irrtums.
Die Hilfsgeister von oben oder unten kennen hier keinen
Unterschied, »die von unten, die köstlich Dunklen« noch am
wenigsten. Hingegen haben die von oben den Nazarenern zu lange nahe
gestanden. Das gesteht im Alter sogar unter Tränen an der Piazza
des Weinens Herr Overbeck in der Kirche Santa Maria del Pianto vor
zwölf seiner Schüler am Tage des heiligen Lucas.
Die Düfte des Leinöls, der Harze, die wachsvermischten Tinkturen
widersprechen der Bildung einer Familie und die köstlichste
Einsamkeit, die mit Spuren von Schadenfreude vermischt ist,
übergeht die trostlosen Wochenenden und Feiertage im Zauberreich
der Kultur.
Man kann als Genießer oder als Schöpfer die Kultur hereinlegen oder
man wird als eifernder Narr ihr gequältes Opfer. Allerdings, ein
monastischer Zug von Verzicht gehört als Ausdruck von Weisheit
dazu. Verzicht auf Streben nach öffentlichen Ruhm, die Vermeidung
aller intelligenten Gesellschaften und als wirkliche Hilfe nur ein
älterer Herr mit einem zierlichen Bauch unter englischem Stoff, der
Besitzer einer ebenso geheimnisvoll zeitlosen Galerie, weit, weit
entfernt von Berlin und Paris, etwa im fernen Ostende, das ein
ebenso köstlicher Schwärmer und Anti-van Gogh auf verwirrende Weise
in vollendeter Naivität schon vorgewärmt hat.
Zerfallende Bauernhöfe liefern die alten Bretter oder die an den
Rändern vergilbten Hochzeitsleinwände, die alten Nägel, den echten
Staub, der, mit Regenwasser vermischt, den wertvollen Dreck der
alten Zeiten so anspruchslos liefert. Etwas Rost für den allzu
neuen Zinnober, es gibt den alten nur noch in China, statt dessen
abgeriebene Steine von den roten Ufern des Mains, Phiolen voll
aufgewärmter Insekten mit Eierhonig, zur fleckigen Stärkung der
Leinwand mit Roggenkleister vermischt, gelegentlich auch einen
prachtvollen Schinken mit Frühstückseiern beim Aushandeln dieser
bescheidenen Waren. Was für ein Traum.
Die Inbrunst der Suche nach solchen Stoffen, dieser alchimistischen
Bildungsreisen einer kunstreichen Pilgerschaft, mischt sich mit dem
Glauben an geistige Schätze, die als Reliquien Macht besitzen, an
berühmten oder berüchtigten Hauswänden kleben oder an einfachen
Kieselsteinen am nächsten Waldrand, die nach zehntausend Jahren das
erste Mal stupore
erwecken. Sie bilden die Hausmacht gegen alle Moral, Fälschungen
hin oder her. - PM
FAMILIÄR

Das Familiäre bedenken, bis es so mit Pusteln überdeckt ist, dass
es sich Zeit lässt: wunderbar. Aber so ist es nicht. Es bringt
seine Zeit mit, es läuft wie auf Schienen, wie geschmiert, wie man
so sagt, es unterläuft alle Bindungen, denn es bringt sie mit. Es
hat, wie man so sagt, alles dabei: dabei bleibt es. Das Familiäre
ist das Familiäre, nackte Identität, wenn du willst, aber im Grunde
wird keiner gefragt. Es hat seine Falten, das ist wahr, es besteht
nur aus Falten, praktisch, auch das ist wahr. Ach, diese
Wahrheiten, alle zusammengenommen, sie passen auf einen Seziertisch
und doch... Man muss sehen, dass sie nicht herunterfallen, das kann
wichtiger sein als eine gelungene Operation. Was bedeutet schon
eine gelungene Operation gegen die Unzahl derer, die anstehen? Das
Einzelne verzwickt, das Ganze unbezahlbar, die Verantwortlichen
schleichen sich vom Tisch, sie können nicht ertragen, was sie da
anrichten, und laufen in ihr Unheil hinein, privat, wie denn sonst,
ein richtiges Unheil kommt immer privat. All diese Privatheiten
summieren sich, sie ergeben eine erkleckliche Summe, für die man
sich eine Welt kaufen könnte, aber gegenwärtig haben wir keine im
Angebot. Das Familiäre ist ein Diebstahl am Allgemeinen, der älter
ist als das Allgemeine, das durch ihn Schaden leidet, es ist König
Diebstahl, der in allen Türen steht und die eingelagerten Vorräte
mustert, bevor man ihn rituell verbrennt. Geständig wiederholt er
noch auf dem Scheiterhaufen die Worte: »Das ist alles meins!«,
bevor ihn das Entzücken Batailles bis zum nächsten Mal in seine
Schranken verweist.
FANGQUOTE

Ilse, mit Emphase: »Die Fangquote ist eigentlich eine gute Sache. Ihr verdanke ich Erfahrungen, die mir sonst mit großer Wahrscheinlichkeit entgangen wären. Ich sage ›mit großer Wahrscheinlichkeit‹, weil ich das immer so sage, es entspricht meinem Lebensgefühl und, sagen wir mal, den Gegebenheiten. Man darf sich nicht festlegen, weißt du, sonst fliegen einem die Festlegungen früher oder später um die Ohren. Das fand ich nie so prickelnd. Der nicht festgelegte Mensch ist der gute. Natürlich enthalten auch die Fangquoten so eine Art Festlegung, aber wer kein Fisch ist, der bekommt das nicht so zu spüren, es kommt vor allem darauf an, kein Fisch zu sein. Ein Fisch bin ich nie gewesen, ich war immer auf Fang, ein Leben lang, eine Quote macht auch Appetit auf Neues, da muss einer erst drauf kommen. Und vergiss den Beifang nicht: Ganz wichtige Lebensregel. Der Beifang hat mich mit dem Leben versöhnt, weniger mit dem meinigen, aber mit dem der anderen. Käme jeder als solus ipse daher – ich mag diesen Ausdruck, er erinnert mich daran, die Sohlen in Schuss zu halten und mir nicht die Hacken abzulaufen –, dann könnte er gleich bleiben, wo der Pfeffer wächst.
Ein Mensch ist
kein Mensch, es dackeln immer noch zwei hinterher. Da darf man es mit der Quote nicht so genau nehmen, sie regelt den Verkehr ja nur obenhin, nach unten ist immer Luft. Gelegentlich auch nach oben, man darf sich bloß nicht erwischen lassen oder muss gleich ein großes Geschrei anfangen. Ein richtiges Geschrei ist stärker als jede Quote. Es hebelt sie zwar nicht aus, aber es dickt sie ein und anschließend sind alle wieder ein Stückchen klüger.«
FARBKANNIBALISMUS

Der Kampf der Farbe mit dem Hunger der Leinwand ist viel
bedeutender und ernster zu nehmen, als der oberflächliche
Betrachter der Bilder ahnt. Der Maler erweckt nicht nur Illusionen,
sondern er ist auch ein Speisemeister und sättigt die Leinwand
ebenso mit gesunden Erdfarben und Leinöl wie mit den Giften des
Bleiweiß oder des Schweinfurter Grüns. Die Seher – es sind nicht
die gaffenden Ästheten gemeint, sondern die alle Materie
durchdringenden Späher des Untergangs, der in allen Dingen waltet –
bezeugen den Kampf aus Hunger und Gift auch auf der Leinwand. Warum
gäbe es sonst auch die gute Malbutter des Johannes, die
bon beurre de peinture,
die der Lichtverkünder heiliger Worte im hohen Alter den malenden
Mönchen vom Berge Athos gestiftet hat? Sie vollzieht die innere
Taufe der Bilder mit Hilfe des ›Grisams von Patmos‹, wie diese
Butter mit Recht bei ihnen genannt wird. Restauratoren unserer Zeit
ahnen wohl kaum noch, warum manche Gemälde zerfallen und andere
duften und unvergänglich erscheinen. Der Geruch der Heiligkeit
waltet auch hier, aber sie wissen es nicht.
Ein furchtbares Beispiel für die doppelte Barbarei des
Zusammenhangs zwischen den prophetischen Illusionen der Kunst und
dem Hunger der reinen Materie vollzieht sich am deutlichsten wohl
auf der großen Leinwand von Géricault, die man im Louvre unter dem
Titel Le naufrage de La
Méduse oder als Floß der
Medusa besichtigen kann. Hier sieht der genaue Beobachter,
der die Verwandlung der Materie im Objekt einer Illusion nicht aus
den Augen verloren hat, die verhängnisvolle Verwicklung von
materieller Gier und Vergiftung ebenso im grausamen Hunger der zu
Kannibalen gewordenen Matrosen wie in der stummen Gefräßigkeit
jener Asphaltfarben, die im neunzehnten Jahrhundert die Maler so
sehr begeisterten. Aber die Brillanz dieser Farben ermattete rasch,
indem sie sich anfänglich voller Pracht auftragen ließen, um
alsdann in die Tiefen der Leinwand zu fahren und wie gefräßige
Schlangen bloß ihre runzlige Haut zurückzulassen. Die großen,
gewiss einst schwermütigen Schatten des Bildes sind inzwischen
dunkel und blind wie Leder. »Cannibalisme de la couleur« befand ein würdiger
alter Herr, gleichsam ein Nachfahre jener verruchten Matrosen, der
im Museum neben mir stand, und er nannte auch gleich die ebenso
verruchte Farbe, die den zahlreichen Liebhabern alter Meister übel
genug bekannt ist: »Brun de Cassel.« - PM
FARCE

»Angenommen…« – »Ja?« wirft B ein, es klingt wie eine Drohung, aber das
bleibt eine bloße Annahme –, »angenommen, ich nehme die Wahl an, nehmen
die anderen dann an, dass ich gewählt bin oder fallen sie über mich
her, weil sie annehmen, dass ich die Verweigerung verweigert habe und
sie einer solchen Verweigerung die Zustimmung verweigern müssten,
vulgo: sie nicht dulden wollen? Bin ich also angenommen? Falls ja: werde ich
angenommen als einer, der annahm, dass er annehmen dürfe, was
anzunehmen ihm angetragen wurde, nachdem er einmal bekundet hat, dass
er annehme, anzunehmen sei die Pflicht des Gewählten, zumindest dann,
wenn unter der Annahme gewählt wurde, dass er annehmen werde, weil er
die Annahme im voraus zugesichert hat? Oder bin ich der falschen
Annahme erlegen, dass Annehmen das selbstgewählte Schicksal des
Gewählten sei, der gewählt wurde, weil er sich in eigener Person der
Wahl stellte, also nicht etwa hinterrücks, unter der Annahme, er werde
schon ablehnen, in die Wahl eingeschmuggelt wurde? Noch habe ich
angenommen, aber ich nähre bereits die Annahme, dass meine Annahme
unter der irrigen Annahme erfolgte, von denen angenommen zu werden, die
annehmen durften, ich werde die Annahme nicht verweigern, was ich
hiermit tue, obwohl sie ja, streng genommen, bereits erfolgte und daher
als Annahme von mir und anderen angenommen, d.h. akzeptiert
wurde. Nun wurde ich aber angenommen von denen, die mich gewählt haben
und also annehmen durften, es sei mir recht, gewählt zu werden und ich
würde die Annahme nicht verweigern, was ich ja auch, wie jedermann
nachlesen kann, nicht getan habe.
Nicht angenommen werde ich hingegen von
denen, die annehmen durften, dass die Annahmen, unter denen ich
annehmen durfte, angenommen zu werden, ihnen zugute kommen würden,
während sie sich in aller Öffentlichkeit davon distanzieren könnten, da
sie mit der Wahl und all ihren Annahmen vorher und nachher im strengen
und im loseren Sinn nichts zu tun hätten, was immer noch richtig ist,
solange man davon ausgeht, dass sie, rein rechtlich gesehen, keine
Oberen sind, sondern nur Entferntere. Es sind also die Entfernteren,
die mich zur Aufgabe der Annahme unter der Annahme drängen, dass ihre
Interessen durch die Aufgabe meiner Interessen und derjenigen, die mich
gewählt haben, besser gewahrt blieben als dadurch, dass ich, der ich
nun einmal näher dran und sozusagen mittendrin bin, meine Interessen
unter der Annahme verfolge, damit dem Interesse derjenigen zu dienen,
die durch ihre Wahl gezeigt haben, dass es möglich ist zu wählen, z.B.
mich, während die Verweigerung der Annahme meinerseits die Wahl selbst
zur Farce hätte werden lassen, ich sage:
zur Farce, denn es ist eine
Farce, zu wählen und gleichzeitig nicht zu wählen, durch eine Art
wählendes Nichtwählen die vorangegangene Wahl durch die Wähler, die
mich und alle hier Wählenden gewählt haben, damit gewählt sei und
gewählt werden könne, zu annullieren und somit den Wählern und
Wählerinnen eine Nase zu drehen. Ich darf also annehmen, dass die von
mir nicht angenommene, aber durch mich erfolgte Annahme der Wahl der
Annahme der Vielen Vorschub leisten wird, dass die Annahme, ich und
meine Partei stünden wie alle anderen zur Wahl, auf dass die Wähler und
Wählerinnen die Wahl hätten, heute dahingehend korrigiert wurde, dass
sowohl mein persönliches Zur-Wahl-Stehen als auch das meiner Partei
eine einzige … ich sagte es bereits, Farce sei, was, wie alle, die mich
kennen, bestätigen werden, einerseits eine große Ungerechtigkeit
darstellt, andererseits den Nagel auf den Kopf trifft.« Soweit A.
»Aha«, sagt B, »ich verstehe Bahnhof. Sparen Sie sich das für Ihre
Memoiren auf und stehen Sie mir nicht im Wege. Das kann ich schon
selber.«
FASSADENKUNST

Ist das Spiel erst aus, gelingen die entschiedensten Würfe.
– Weiter. – So sieht man einen Menschen, der eben noch in vollem Spagat
seinen Geschäften nachgeht und sich privat vergrübelt, verborgen
bis zur Unkenntlichkeit in Formeln, die, von ihm abgesehen, keiner
entziffern kann. Von sich absehen kann er nicht, die anderen können
es wohl, ihr Blick gleitet an ihm entlang wie am Inneren einer
Regenrinne, er tropft ab. Heute laufen seine Geschäfte leer, der
Raum, in denen er Kundschaft erwartete, ist zu und er schenkt jedem
ein zerstreutes und unverständliches Lächeln, der ihn darauf
anspricht. Das verstehen die Leute, es sagt ihnen, dass er einer
von ihnen geworden ist und Fassadenkunst betreibt. Fassadenkunst!
Er könnte darüber lachen, doch er bemerkt es nicht einmal. Oder er
bemerkt es und versteht es nicht. Oder er versteht es und glaubt es
nicht. Oder er glaubt es und ist froh. Die Formeln bedecken die
Mitte des Raumes, er vertreibt sich die Zeit damit, zwischen ihnen
hindurchzugehen, man könnte es einen Tanz nennen, einen sehr
privaten Tanz, den keiner zu sehen bekommt. Dabei schichtet er
Hölzchen auf, eins neben das andere, eins über das andere, in
unregelmäßigen Schichten. Zusammen könnten sie eine Pyramide
ergeben, er weiß es noch nicht. »Nicht verzetteln« brummt er und
schiebt einen bekritzelten Zettel zwischen zwei Hölzer.
FAUSTNARR

Gewiss, gewiss, wer das Alphazet nachmacht oder verfälscht, wer
nachgemachte oder verfälschte Artikel des Alphazets sich verschafft und
in Verkehr bringt, wird mit Gelächter nicht unter zwei Jahren bestraft
– das klingt gut und schön und vertraut oder vielmehr ungut und unschön
und umso vertrauter, aber es verdeckt doch das Wesentliche, den Impuls,
der, es kann nicht anders sein, hinter solch schändlichem Treiben
steckt: die bedingungslose Verehrung, die bis zum Wahnsinn gehende
Vernarrtheit ins Original, das rücksichtslose, über Buchstabenleichen
hinwegwieselnde Begehren, sich mehr davon zu verschaffen, bei
vollkommener Unfähigkeit zu begreifen, dass auf eigene Faust hier
nichts zu holen ist, teils, weil die Faust, die sich da in der Tasche
ballt, bei Licht besehen nur als Fäustchen durchgeht, gerade gut genug,
um bei Gelegenheit hineinzukichern, teils, weil das Verlangen selbst
nichts als eine Narretei ist, als solche bereits im Alphazet aufgehoben
und mit Hilfe von Omas Silberbesteck verspeist. So gesehen ist jede
Nachahmung bereits gegessen, bevor sie das Licht der Welt erblickt –
gegessen, nicht verdaut, wie alles Unverdauliche, am Ende kommt jedes
Stück so heraus, wie es eingespeist wurde, nur kenntlich geworden …
kenntlich, das ist das Wort, man müsste es, anstelle des aus
der Mode gekommenen Prangers, an öffentlichen Leseplätzen anbringen,
ohne Zusätze, ohne Erklärung, ohne weiteres.
FAUSTRECHT
Dass die Faust recht hat, dass sie gern recht hat, ist allgemein
bekannt und bedarf keiner Nachfrage. Weniger bekannt scheint zu
sein, dass sie nur gezwungen auf dem besteht, was ihr gutes Recht
ist: das Recht nötigt sie dazu. Ungezwungen wäre die Faust ein
Zeitgenosse wie jeder andere, ein wenig kauzig vielleicht, aber man
ließe ihm das durchgehen. Gezwungen entsteht aus ihr ein Wesen
anderer Ordnung, das sich holt, was ihm zusteht. Da ist ein
Magnetismus im Raum, der alles, was herumsteht, ein wenig zu ihr
hinüberbiegt, ein
Stehen-zu, wenn Sie verstehen, was ich
meine, unübersehbar für den, der sich in solchen Dingen auskennt,
und das sind viele. So wird die Faust – wie gesagt, das Recht
scheint sie dazu zu zwingen – für mancherlei zuständig, darunter
ganze Bereiche, die sich ihr auf den ersten Blick zu entziehen
scheinen. Es gilt aber der zweite. Im Grunde weiß niemand, welcher
gilt, es ist auch egal, am besten sieht man nicht hin. So eine
Faust ist schließlich ein Objekt der Furcht. Sie vor allem steht
ihr zu, sie steht und stiert ihr nach, dass es einen juckt. »Ich
hole mir mein Recht« – an einem solchen Satz erkennt man die Faust,
bevor sie niederfällt und dem Recht die erste Quetschung beibringt,
das noch nicht weiß, dass es ihr Recht ist und mit der Folgsamkeit
zögert. So mag es der Teufel holen. Er ist ein Rechthaber, da kommt
es auf zwei oder drei neue Rechte nicht an. Wir haben ja! Man kann
sie nachschneidern, das hat keine Schwierigkeit.
FEHLERFREI

Die, denen nichts fehlt außer dem Fehlen selbst, sind der Fehler. Das ist übrigens kein Kalauer, sondern die reine Wahrheit, Betonung auf ›rein‹, so dass kein Rest bleibt, über den sich diskutieren ließe. Viele Menschen sehen das anders, sie diskutieren gern, aber in so einem Fall müssen sie passen. Müssen sie? Sie müssen nichts, darin besteht ihr Vorteil und ihr Beschränktheit. Sie müssen nicht, sie können und wollen, vor allem letzteres, mit einem Schuss ›dürfen‹ dabei, das sie ablehnen, weil es sie verrät. Warum verrät es sie? Weil sie im Grunde Erlaubte sind, Leute, denen man einen Spielraum gegeben hat und in diesem Raum einen Spielgrund. Sie haben Grund zu spielen, weil sie von allem anderen ausgeschlossen sind, was nicht bedeutet, dass sie z.B. keine Kriege führen dürfen, selbst dieses Privileg besitzen sie, aber nicht in vollem Umfang. Sie dürfen, weil sie müssen und weil es ihnen vorgeschrieben wird, übrigens auch der Rahmen und die Ziele, für die sie es tun. Sie sind also, wenn es hart kommt, reine Tötungsmaschinen und dürfen als solche getötet werden. Eine schreckliche Konsequenz, über die nicht diskutiert werden darf, auf keinen Fall und unter keinen Umständen. Eine solche Diskussion wäre ›nicht produktiv‹. Und produktiv sein, das wollen sie, am besten an allen Fronten. Warum das so ist, wird man erst später erfahren, eine Ahnung davon geht um, aber etwas Genaues weiß man nicht.
FEHLLESER

Man liest fehl, wie man fehlgeht, nichts ist natürlicher und regt
die Menschen weniger auf. In Büchern kann man sich leicht verlesen,
anders als in Menschen, an denen man sich bequemer vergeht. Das
liegt daran, dass ihr Inneres unzugänglich bleibt und nur auf dem
Weg der Selbstpreisgabe ein wenig Hokuspokus erlaubt. Der Wunsch,
in Menschen zu lesen wie in Büchern – und in ihnen statt in Büchern
–, ist uralt. Da die Buchstabenschrift an den Grenzen der Psyche
endet, verzeichnen die Analphabeten hier einen leichten Vorteil,
der allerdings dadurch entwertet wird, dass sie keine eigentliche
Leseerfahrung besitzen. So bleibt die Psyche das bevorzugte Gebiet
derer, die zwar lesen können, aber nicht ›zu lesen begehren‹.
Vielleicht wollen sie ja, aber ein sonderbarer Zwang treibt sie in
eine andere Richtung – der entschiedene Wunsch, ›etwas mit
Menschen‹ machen zu wollen. Bekanntlich ›macht‹ man mit Büchern
nichts. Nur Kindsköpfe türmen sie wie Bauklötze übereinander und
konstruieren daraus Eigenheime, in denen sie sich bei Regen
verkriechen. Wieder andere machen Geld mit ihnen oder werfen sie
ins Feuer. Doch der Heizwert pro gesellschaftlicher Meile bleibt
gering. In Zeiten, da die Bücher sich an den Rändern aufzulösen
beginnen, da sie zur Netzform übergehen oder zur Unform, werden
die, die schon weiter sind, gnädig. »Es geht um das Buch!« rufen
sie mit erregter Stimme, man merkt ihnen an, dass sie den Fehlgang
fürchten. Vom Umgang mit Büchern weiß zu berichten, wer einmal
versucht hat, sie zu verkaufen. Den Büchern geht es um nichts, als
Stapelware des Geistes genießen sie den heillosen Schreck, an der
Sonne zu bleichen.
FERNE
Alles Schreiben geht in die Ferne, aber die Menschen machen sich
nicht klar, was das bedeutet. Sie wollen Rapport: sofort. Man kann
das verstehen, aber nicht wirklich. Als Prestigemaschine ist das
heutige Schreiben allen anderen Formen der Mitteilung unterlegen;
wer ins Fernsehen drängt, sollte Umwege scheuen, auf denen
man bequem sein Leben vertrödeln kann. Die Zeit der Bücher ist
nicht die Zeit der Menschen, die sie geschrieben haben. Auch
verdient sie nicht wirklich Zeit genannt zu werden. Es ist etwas an
ihr, das sich schwer benennen lässt. Sie ist durchlässig, eine Zeit
mit Löchern, eine Art Sieb oder Fangnetz, durch ein Gewässer
gezogen. Was sie fängt, ist die Aufmerksamkeit von Leuten, die
einander nichts oder wenig zu sagen haben und sehr überrascht
wären, wenn sich der Autor
in
persona in ihre Gedanken drängen würde. Goethe, Tolstoi,
Proust: hätten Sie sie kennen mögen? Mit ihnen reden? Tagaus,
tagein? Ohne Unterlass? Über alles mögliche? Das ist nicht Ihr
Ernst. Oder Sie sind buchuntauglich und sollten an dieser Stelle
das Lesen einstellen. So wie ein Autor nur für das wahre, das
anomyme Publikum schreibt und sich vor Reaktionen bekreuzigt, so
will ein Leser das wahre, das anonyme Werk, eine Folge von
Buchstaben, die ihn überallhin begleitet, aber auf ihre, nicht auf
Menschenart. Es gibt Leute, die Bücher verabscheuen, in denen es
menschelt, in denen ein Autor fleischlich wird, sich am Ende in des
Wortes Vollsinn erklärt. Von derlei Ergüssen mag etwas halten, wer
will, sie sind
erschrieben, so wie man etwas
ertrickst oder sich
ereifert, statt Eifer zu
zeigen – oder ihn gar zu verbergen, was wesentlich effizienter
wäre. Wer sich aber, wiederum in des Wortes Vollsinn,
verschreibt, der kommt der Sache schon
näher. Man verschreibt sich, wie man sich
verläuft: auf einmal kreuzen sich alle
Wege und man steht
inmitten – von was auch immer.
Verschrieben hat man sich mit dem ersten Wort, sofern es steht –
wem auch immer, der Sache, dem Widersacher, dem Sachwalter, der
vielleicht nicht ausbleibt. Da gehen die Leute hin und schreiben
für die Lebenden, um etwas zu bewirken, etwas anzuschieben, um zu
kämpfen, um zu zeigen, wie sehr sie dabei sind und auch gehört
werden wollen. Aber man schreibt immer für Lebende, man kennt
sie nur nicht. Die Autoritäten von heute, sie sind schon tot, sie
hören kaum noch hin und lesen –... Lesen? Können sie das? Ist so
ihr Leben? Ist das ihr Kampf? Wirklich lesen Menschen,
bevor sie über den Köpfen der anderen
auftauchen, danach brauchen sie Stoff. Wer ein richtiger Lieferant
ist, wird immer den Unterschied leugnen. Daran erkennt man ihn und
seinesgleichen.
FERNSEHEN
Wer im Heiligen Officium nur den Hort finsterer Machenschaften und
grausamer Beschlüsse sieht und darüber die wahrhafte Sorge um die
richtige Auffassung vom Menschen vergisst, den bestürzend
schütteren Stand der Rechtgläubigkeit in den sich christlich
nennenden Gesellschaften der damaligen Welt und die sich daraus
ergebenden Missstände, um das, was zu tun bleibt und was not tut,
der hat vom Fernsehen nicht viel verstanden oder weigert sich, den
Dingen ins Gesicht zu sehen. Man sollte auch den Anteil des
Geheimen am Walten der Inquisition nicht willkürlich übertreiben.
Sie hat es über Jahrhunderte geschafft, die Phantasie der Menschen
zu beschäftigen, ihre bekannten Protagonisten waren in aller Munde
und ihre
Performances, vom
freiwilligen Widerruf bis zum Autodafé, waren, neben allem anderen,
wirklich gute Unterhaltung, professionell gemacht und beim
Konsumenten äußerst beliebt.
FESTNAHME
Da steht er, der kleine Mörder, lässt sich die Handfesseln anlegen und denkt:
»Das also ist mein Tag. Ich habe mein Leben aufgerissen, als ich diese Menschen,
an die ich mich kaum erinnere,
zur Strecke brachte, ich war der Jäger und
die Jagd, ein bisschen auch der Gejagte. Meine Opfer kannten mich ja nicht und
wussten nichts von meinen Absichten. Sie kamen mir bloß dazwischen und
eigentlich ist mir der Gedanke an sie lästig. So war ich eigentlich alles in
einem – und jetzt? bin ich willenlos, herumgeschubst von den Bullen, bald kommen
die Vernehmer. Was wollen sie denn vernehmen? Dass ich unzufrieden bin? Ich
werde sie um ein Glas Wasser bitten und sie werden meinem Wunsch willfahren.
Soviel Aufregung um ein Glas Wasser. Sie könnten etwas hineingeben und das wär’s
dann. Warum tun sie’s nicht? Man sagt, sie dürfen es nicht. Ich habe Rechte. Von
jetzt an habe ich Rechte. Das also hätte ich erreicht: Rechte zu haben. Kein
Mensch sollte tun und lassen können, was ihm beliebt. Keiner. Es ist ungerecht,
das so spät zu erfahren. Manche sagen ja, besser spät als nie, aber das ist
bullshit. Wie dem auch sei, ich hab’s hinter mir und was ich jetzt vor mir habe,
das wird man sehen. Sie werden wissen wollen: Wer noch? Als ob sie an mir nicht
genug hätten. Ich habe gesagt: Ich will keine Fremden. Warum hat man mir nicht
geglaubt, als noch Zeit war? Jetzt ist mir alles fremd und ich will das nicht.
Ich glaube, fremd bin ich denen auch. Unheimlich. Jetzt bin ich von allen der
Fremdeste. Klar bin ich ihnen unheimlich. Aber sie lassen sich nichts anmerken
und behandeln mich wie… Dafür fehlen mir jetzt die Worte. Ein Mörder mehr auf
der Welt und sie kriegen mich nicht weg. Das System ist so, dass sie mich nicht
wegkriegen. Von nun an habe ich das System auf meiner Seite. Ein Narr, wer an
das System glaubt. Ich habe nie verstanden, wer sich das ausgedacht hat. Ich
wusste nur, ich würde ihm einmal ins Auge schauen. Ab jetzt muss es mir dienen.
Ich habe das System überwunden. Das ist unfassbar. Und sie merken es nicht, sie
merken es einfach nicht. Sie glauben, sie hätten alles im Griff. Oh ihr
Kleinmütigen – nicht einmal im Traum dürft ihr daran denken, wie sehr ich auf
euch herunterblicke. Ihr blickt durch mich hindurch und ich, ich… habe mich
noch. Von jetzt an bin ich Objekt.«
Und er steht wirklich da, mit
zerrissenem Hemd und blutiger Hand, er hat etwas getan und jetzt entspricht es
nicht seinen Vorstellungen.
FETISCHCHARAKTER
Dass
Kunst Ware ist, dass
sie Ware sein kann, dass sie nichts als Ware sei, hat mehr Gehirne
in Bewegung gesetzt als jede andere Bestimmung, die ihr angehängt
wurde. Das ist verständlich, denn dadurch wurde sie Leuten
zugänglich, die sich ansonsten leichter erhängten als
ein Wort von dem zu verstehen, was da
steht, oder denen
diese
Bildsprache jetzt nichts sagt. Seit das Wort ›Fetisch‹ im
Raum steht, plappern sie unentwegt und sie finden, dass Kunst ein
guter Begleiter ist, eine wirklich wichtige Sache, ein Stück
Lebensart: »So wollen wir leben.« Unter dem Aspekt des größeren
Glücks für die größere Zahl wäre es allemal besser, wenn sich die
Künstler erhängten anstelle der Kunstliebhaber, leider war von
letzterem nie die Rede. Der Fetischcharakter ist in der Kunst das,
was die Gräten im Fisch sind: unerlässlich fürs Fortkommen, doch
unendlich lästig und endlich gefährlich für den Genießer.
FEUDALISMUS
Sie kaufen sich Zeit. Sie kaufen sich Zeit, wie sie sich immer Zeit
gekauft haben, sobald sie erst an der Macht waren. Die Macht ausüben heißt,
sie dafür einzusetzen, dass sie bei dem verbleibt, der sie ausübt. Das
muss nicht immer und überall die volle Wahrheit sein, aber es ist die
Grundrichtung aller Machtausübung. Tun, was getan werden muss, heißt
nicht, die Notwendigkeiten des Daseins aller zu beherzigen, sondern den
ungestörten Genuss der Beute zu sichern. Hier schlägt das Herz eines jeden
Feudalismus, ein anderes Herz kennt er nicht. Die Frage lautet also:
Was ist Feudalismus? Nicht der museale Feudalismus, dem Europa und die
Welt ihre Schlösschen und Paläste verdanken, durch die heute der Pöbel
flaniert, gierig darauf zu erfahren, wie man ›damals‹ zu leben
wusste.
Der perennierende Feudalismus ist das System der
ersessenen Anwartschaften in einem auf Gefolgschaft gegründeten
System. Ein solches System kann starr exekutiert werden, dann läuft
es auf irgendeine Form des Staatskannibalismus hinaus, es kann auch
geschmeidig daherkommen und alle staatlichen Sicherungen unterlaufen,
ohne sie nach außen sichtbar in Gefahr zu bringen. Sein erstes Opfer
ist immer und überall das Recht: es wird weiter gesprochen, aber es ist
gezinkt. Doch bevor von Opfern die Rede sein kann, welkt das
öffentliche Wort. Es wird ersetzt durch die Prunkrede,
exornatio, untrügliches Kennzeichen feudaler Verhältnisse, und
ihren verbalen Schatten: die Vernichtung,
nihilatio, des
gemeinsamen Feindes. Wer nicht verständigt ist, wer noch nicht weiß,
dass der Andere sein Feind ist, der kann nicht loyal sein. Der subtile
Feudalismus legt eine Schippe drauf und verdoppelt den Anderen: dem
einen verschafft er ein Privileg, dem anderen erlegt er auf, für seine
Kosten aufzukommen. Ein köstliches Spiel: die Erschaffung des Anderen
des Anderen durch Rechtsbruch oder, sagen wir, durch subtile
Modifikationen des Rechts, das keinen Anderen kennt, sondern nur Gleiche.
Wer Privilegien schafft, schafft Feinde ohne Auslauf, eine untertänige
Masse, deren Zähneknirschen sich bequem in Hoch-Rufe umdeuten lässt. Da
fällt Loyalität leicht, denn sie verkörpert das Schöne, das Leben ohne
Ressentiment, das Leben auf der richtigen Seite, das gern mit dem
richtigen Leben verwechselt wird. Aber was heißt schon richtig? Am Ende
aller Zeitkauferei steht das Gericht: Die Belle Époque ist verrauscht
und ein paar Überlebende krächzen:
Wer damals nicht lebte,
hat nicht erfahren, was leben heißt.
FEUERWERK
Am Ende ist alles Feuerwerk. Das betont die Ratte mit feinem
Akzent, als sie die Zündschnur durchbeißt und sich des ungewohnten
Geschmacks wie einer fernen Morgenröte erfreut. Die sichere Distanz
wird nicht ersessen oder erarbeitet, sie wird erjuxt. »Das ist
nicht wahr«, schmollt das Tierreich, »einen Seufzer für jede
Wohltat.« Die aufregendsten Langweiler sind aber die Hasen, ihre
spröde und behende Art kommt aus dem hypertrophierten Gehör hervor
wie der Schnaps aus der Flasche.
FILMSPRACHE
Sprache, in der das Töten leicht fällt.
FILMTABLETTE
Es gibt Kalauer, die man nicht ausführen muss. Nur soviel: keine Bambi-Verleihung und keine Bachmann-Festspiele werden den Antagonismus von Tabletten-Kunst und Literatur jemals besiegen können. Begründet liegt er in jenem
‑iteratur, im Wieder- und Wiederlesen, rein zeitlich im Verfügenkönnen über einen Gedanken, der einmal schriftlich fixiert wurde, und zwar an jeder Stelle, in jeder beliebigen Konfiguration. Das macht, abseits des Lesens, die ›Lektüre‹ zu einem so komischen Unterfangen: wer ein Buch einwirft, wie man Tabletten einwirft, der ärgert sich am Ende, den Film verpasst zu haben, oder er fühlt sich erhaben und ein wenig von der Welt im Stich gelassen, weil er sich soviel Zeit gelassen hat wie sonst kaum jemand. Er lobt sich also dafür, dass er so langsam ist. Vielleicht ist er das ja wirklich: dann ist das Buch sein Kino. Vielleicht hat er einfach zuviel Phantasie, die bei der Lektüre in alle Richtungen davongehen kann, während der Film sie mit Messerhieben traktiert. Oder das Gegenteil ist der Fall und der Film rauscht unverstanden vorbei. Nach aller Erfahrung ist das sogar die Regel. »Ach Gott, ja«: darin besteht die kathartische Anwandlung seitens aller Medien, die über die Zeit gebieten, verbunden mit einem dumpfen Wunsch nach Veränderung. Man könnte z.B. einen neuen Fernseher kaufen und sicher wird man jetzt das eine oder andere kritischer sehen als früher.
FINDERLUST
Seltsamerweise ist zu Beginn einer Entdeckung der Wunsch, das Entdeckte zu verändern, am größten. Erst später, wenn die wahren Dimensionen des Entdeckten nach und nach sichtbar werden, kehrt eine gewisse Ruhe ein und man lässt die Dinge an ihrem Ort, um von ihnen einen möglichst angemessenen Gebrauch zu machen. Nach diesem Muster wurden Kontinente durch Entdeckung zerstört, die unentdeckt einen langen zivilisatorischen Gang vor sich hatten. Am fruchtbarsten wirkt die Saat einer neuen Botschaft, fällt sie in unbedarfte Gemüter, sie wird furchtbar, vor allem Mitmenschen, die bereits weiter sind. Die erste, noch krude Computersimulation des Weltklimas bescherte der Menschheit einen ›Weltklimarat‹, um den alle sich drängen, denen die Ratlosigkeit ihrer Existenz das Gesicht weggebeizt hat: sie verhindern den wissenschaftlichen Fortschritt nicht, sie behindern ihn nur. Jede
gezielte Förderung verändert das Wissen, verengt es zu einem Konglomerat aus Wissen und Überzeugung, das heißt ›Deckzeug‹, unter dem das Wissen zu modern beginnt und schließlich verfault, während die Apparate wuchern, die man aus ihm gewann. Archäologen haben mühsam gelernt, nicht jeden Grabungsfund trophäengleich in ferne Museen zu schaffen, sondern ihn in seiner Umgebung zu studieren und gegebenenfalls die Erdschicht wieder herzustellen, der er sein Überdauern verdankte. Nicht jede Wissenschaft ist auf diesem Stand angekommen, einige ähneln noch immer Granaten schwenkenden Kindern, denen die Finderlust im Gesicht steht.
FINIS, GERMANIA!
Die Deutschen sind empfänglich für Untergangsschnitten mit Weihrauchperlen, selbst aus den Nachlässen Verstorbener klauben sie dergleichen heraus, das will etwas heißen. Es ist der Preis dafür, in einem nach allen Seiten offenen Lande zu leben, vor allem, wenn der Eindruck vorherrscht, die Politik habe auf Durchzug geschaltet, was vermutlich der Fall sein dürfte, doch der konkrete Nachweis fällt schwer. Das höchste Glück der Regierenden besteht darin, dass ihnen niemand rechtzeitig auf die Finger schaut, das tiefste Unglück der Regierten darin, dass es so ist. Alle paar Jahrzehnte geht dieses Land unter, danach verlaufen sich die Wasser, man begräbt die Toten, soweit die Umstände es gestatten, erörtert die Schuldfrage und zieht den Karren weiter. Welchen Karren? Ach den! Wie konnte ich das vergessen.
Am Ende verlieren die Deutschen immer, schrieb Tolstoi in
Krieg und Frieden – weil sie das kennen, sind sie so ungemein tüchtig, sie stürzen sich praktisch von einem Wiederaufbau in den nächsten und wissen doch stets, es hat keinen Zweck. Wieviel Geld ihre Arbeiter in fremde Taschen verdient haben, lässt sich nicht einmal ahnen, es ist auch unnötig, weil alle Taschen fremde zu sein pflegen außer der eigenen, gleichgültig, unter welcher Ländernummer sie registriert sind. Endlich sind längst nicht alle Arbeiter Deutsche, die hierzulande malochen, es lohnt praktisch kaum, die Staatsbürgerschaft eines Landes zu erwerben, in dem alles fließt, man weiß nicht, woher und wohin. Irgendwann sind die Deutschen an ihrer Herkunft so irre geworden, dass sie anstelle der weggeworfenen Ahnenpässe, die auch schon Fiktion waren, nur schlechte, sich nun Biographien erschreiben lassen: ein paar geschönte Eckdaten und schon läuft die Geschichte. Ein paar Jahre noch, und sie stammen alle aus dem Sudan wie vorher aus Polen oder dem Erzgebirge. Das nennen sie ›Nachdenken über Identität‹. Jedenfalls nannten sie es bis vor kurzem so, augenblicklich ist der Ausdruck ›Identität‹ verpönt und wer ihn zu anderen als denunziatorischen Zwecken verwendet, gilt als Nazi. Niemand weiß, wie es damit weitergeht, denn als Deutscher ohne Identität ist man polizeilich verdächtig und praktisch arbeitslos, vielleicht liegt darin die Zukunft.
FLASCHENHALS

Auf einer kleinen Anhöhe liegt das Kloster der bekennenden
Immanentisten. Sie reicht aus, um es gut sichtbar werden zu lassen,
doch fehlt jeder Anflug von Erhabenheit, die seine Bewohner mit an
Inbrunst grenzender Überzeugung ablehnen. Mit ein wenig Ironie
könnte man von einer Warft sprechen, aber das wäre gegen den
Comment. Gern nennen sich die Bekennenden hart, obwohl sie die
weichen Themen instinktiv vorziehen. ›Erkennen, was ist‹ lautet ihr
Motto, es steht auf einem kleinen Schild über der Klingel. Übrigens
mag man sie drücken oder auch nicht. Jede Annäherung haben sie
bereits von weitem erspäht und wissen, wie sie den Gast zu
empfangen haben. Nicht umsonst kaufen sie, so wie sich Gelegenheit
bietet, alles angrenzende Land zu. Viele dieser Käufe bleiben
unerkannt. Unmerklich verändern sie das Land, indem sie es mit
Markierungen überziehen. Manch einer orientiert sich daran. Das
merken sie und keiner ist ihnen in der Kunst der Wahrnehmung über.
Wer diese Abzweigung genommen hat oder jene, wann und wo und wie,
mit welchem Ausdruck im Gesicht – solche Fragen sind ihr tägliches
Brot und, seltsam anzuschauen, ihre Gymnastik. Es gibt Grade
weltfrommer Unbefangenheit, die sie aufs schärfste missbilligen.
Aus den Zeiten, als ihre Vorgänger nur Protokollsätze zuließen, ist
der Sinn für das Protokoll geblieben, das anderswo ›Etikette‹
heißt. Alles ist eine Zulassungsfrage, das haben sie klug erkannt
und beuten es aus. So ähnelt der Eingang in ihren Bezirk einem
Flaschenhals: Man sieht die Welt wie bisher, nur ein wenig verzerrt
und grün oder rot oder braun angelaufen, je nach Tageszeit, und man
fühlt sich an gewissen Stellen seltsam gehemmt. Wer nachgibt, darf
gleichwohl erwarten, dass er, alles in allem, zügig vorankommt.
Bleibt die Frage, ob man so aus der Flasche heraus- oder in sie
hineingelangt. Zugelassen ist die Frage selbstredend nicht, wer sie
trotzdem stellt, bekommt einen Cent.
FLUCHTTIER

Die Flucht aus der deutschen Frau in die erotischen Sachwerte: ein maskuliner Renner, wenn man es recht bedenkt, über Jahrzehnte. Jeder Kulturkreis ist recht, wenn’s nur dem Spaß dient. Werde geliebt! Das ist ein Imperativ, kurios wie fast jeder. Werde geliebt – und möge die Welt darüber zu Grunde gehen. Welche Welt? Die Welt der gesellschaftlichen Imperative? Die Welt des mageren Selbstseins? Die Welt der einsamen Konsequenzen? Kein Zweifel, die Freiheit in der Bewegung hat demgegenüber etwas Befreiendes. Man hat sich frei gemacht und man ist so frei: ein ganz natürlicher Vorgang wie z.B. das Wäschetrocknen, das bekanntlich von selbst geschieht, sobald ein wenig Sonne sich einmischt. Die Sonneneinmischung in die intimsten Dinge, sie ist bekannt und, sagen wir, keine Geheimnummer. Es mischt sich auch manches andere hinein, manches andere, ja, auch der Sachwert, sagen wir, personalisiert sich nach einer Weile, eher früher als gedacht, das ist ein ganz natürlicher Vorgang. Liebe, wem Liebe gebührt. Die Journaille nennt das Sex-Tourismus mit Spätfolgen, aber im Tourismus läuft die Tour anders, man hat es vermasselt und dient, nach allem, dem großen Transfer. Auf dem Missbrauchskonto steht groß und unbedarft und artikelfrei: Fremde.
FLÜCHTLINGSFRAGE

Alle Welt kennt die Flüchtlingsfrage, alle Welt stellt sie oder zuckt mit den Achseln: Wohin mit den Flüchtlingen? Wovor sie flüchteten? Keiner weiß es, keiner fragt danach. Warum? Man weiß die Antwort im voraus: Krieg, Hunger, Ausbeutung, Verfolgung, Misshandlung, der sichere Tod. Warum fragen? Bedauern fällt leichter und hält weniger auf. Helfende Hände, dem Elend zugewandt: So sehen wir uns gern. So hätten wir uns gern. Nur tief drinnen regt sich leise der Unwille. Warum so viele? Warum jetzt? Könnte nicht das eine oder andere Elend warten? Könnte es sich nicht eine andere Bleibe suchen statt hierher auszuwandern? Hatten wir selbst gestern nicht schon genügend Sorgen? Wie wird es morgen sein? Was sich drinnen regt, dem schallt es draußen entgegen: »Wer hier? Freund oder Feind?« Wer seine Parole da nicht am Schnürchen hat, der sieht rasch alt aus oder wird es nimmermehr. Die Flüchtlingsfrage spaltet die Länder und Kontinente, warum? Weil jeder weiß, dass, was Menschen anrichten, vor Ort geheilt werden muss. Die Produktion von Flüchtlingen, die ihr Heil außer Landes suchen, muss gestoppt werden, wo immer sie anläuft, die Schuldigen, wo immer sie residieren und welche Immunitäten sie auch beanspruchen, müssen bestraft werden. Jeder weiß es. Wo Flucht ist, da ist Vertreibung, wo Vertreibung ist, da ist Unrecht, wo Unrecht ist, muss es bekämpft werden. Jeder weiß es, denn es ist unendlich einfach. Da lächeln die Verstrickten. So einfach, sagen sie, ist das nicht, sie haben, wie alle, Interessen und die Sorge um das Wohl der Menschheit geht vor. »Auch Flucht ist ein Geschäft, man muss die Renditen berechnen und langfristig denken. Flucht ist ein Lernprozess, in dem alle klüger werden. Ist es nicht das, was wir alle wollen: klüger werden? Darum übt euch in Barmherzigkeit, welche eine Tugend ist, denn sie macht euch klüger und uns wertvoller. Wenn ihr durch Schaden klug werden wollt: Ergreift die Chance! Da ist sie.«
FLUCHVERBOT
Dass Fluchen, kommt es nicht von ganz oben, eine Form der Heterodoxie darstellt, ist allgemein bekannt. Du sollst nicht fluchen denen, die da oben für Ordnung sorgen, ist mithin die Regel, nach welcher der Fluchende, ob er will oder nicht, verfährt. Wie das? Dass er selbst die oberste Instanz sein könnte, erscheint ihm kaum glaubhaft. Eben deshalb will er es glauben machen. Die Leute können sich das Glaubenmachen nur als Nasführen, also als heuchlerische Verführung verständlich machen. So ist es nicht. Entscheidend für den Akt des Fluchens ist der Sprung, der sich in ihm vollzieht. Der Rausch des Glaubenmachens lässt den Fluchenden nicht unberührt, er erfasst ihn ganz und gar, er formt aus ihm keinen Gläubigen, aber er verhilft spontan zu dieser Empfindung des
So muss es sein, ohne die unter Menschen nichts geht. Darin liegt das Geheimnis der Heterodoxie. Das Geheimnis der obersten Instanz hingegen liegt darin, dass sie niemals flucht. Jeder Fluch, jede Verfluchung ist ein Akt der Heterodoxie, die Einrichtung einer Fluchverbotszone für Anderstickende, die
hier nichts zu sagen haben sollen, denn –. Man kennt sie gut, diese Denns, an denen ebenso viele Wenns hängen, auf dass die Verkettung der Schicksale kein Ende nehme.
FLUTWELLE

Die Leute sondern ihre vorgeschriebenen Ängste ab, dass es einen schon nachdenklich macht. Aber wer schreibt sie ihnen vor? Menschen haben Angst, das ist bekannt, nur das Phänomen erklärt sich so nicht. Interessen, sagt der Kritiker: Interessen. Interessen sind das A und O der Marktgesellschaft. Also: die mächtigsten Interessen machen am meisten Angst. Man muss sich die Angstmacherei einmal praktisch vorstellen. Wer Angst macht oder verbreitet oder gemachte oder verbreitete Angst zu eigenen Zwecken missbraucht, der fürchtet sich nicht, jedenfalls nicht vor der Angst. Er betrachtet sie als gegeben. Auf dem Schachbrett der Mittel schiebt er sie dahin und dorthin, wo er sie gerade braucht. Wie er das macht? Ach du liebes bisschen. Schauen Sie sich um. Aber schauen Sie nicht zuviel. Es könnte Ihnen angst und bange werden. Warum ich das sage? Gegen einen Orkan, der im Gehirn wütet, sind die wenigsten gewappnet. Und selbst wenn sie es wären: Was sollen sie machen? Beidrehen heißt die Devise. Da tut es gut, ein Boot zu sehen, das, den sicheren Untergang im Hafen vor Augen, gegen die Flutwelle steuert.
FÖRDERWILLE

Der Förderwille ist mit Sicherheit wilhelminischer Herkunft. Die
ältere Förderabsicht verging mit dem barocken Regierungsstil, nur
der Tourismus profitiert noch immer von ihr. Der Förderwille
hingegen erweist sich bis heute als ungebrochen. Ihm verdanken sich
bereits der Tirpitzsche Flottenbau, der märchenhafte Aufstieg
Krupps und des Simplizissimus aus den Niederungen altdeutscher
Borniertheit, späterhin die Filmwirtschaft und der Rennsport,
schließlich die Atombombe und das Fernsehen und die Windräder und
das deutsche Reedereigewerbe, aber auch die Rednergabe von
Sozialpolitikern und die Kultur. Vor allem letzteres erscheint
schlüssig, wenn man bedenkt, wie gering das Bedürfnis der Menschen
ist, ohne staatliche Anleitung Messer und Gabel zu benutzen, die
Schamteile zu bedecken, kulturell wertvolle Musik zu erzeugen und
Theater zu spielen. Nur geballter Förderwille hält diese Funktionen
in Gang und macht sie ausbaufähig. Hingegen muss das Schreiben
nicht gefördert werden, es sei denn bei Legasthenikern. Das liegt
daran, dass gute Texte sich von selbst schreiben. Bloß die weniger
guten machen Schwierigkeiten, für die der Staat wohl nicht
zuständig ist. Jedoch auch hier hat er seine Hände verdeckt im
Spiel und es spricht für ihn, wenn seinen Vertretern die Schamröte
ins Gesicht steigt, sobald einmal die Rede darauf kommt. Wer z. B.
ist sich beim Schreiben bewusst, dass nicht allein die Kommata sich
der staatlichen Vorratshaltung verdanken, sondern eine so
wunderbare Sinnlosigkeit wie das ›scharfe S‹ ohne Hintergedanken
der Macht praktisch bereits ausgestorben wäre? Aber wie wenig
besagt das gegenüber der im Zweijahresrhythmus erfolgenden Ausgabe
von Hochglanzwörtern. Nachdem sie in einer ersten Erprobungsphase
dem Verkehr zwischen den Erwählten der Macht und ihren
Planungsgehilfen Würde und Effektivität verleihen, beglücken sie in
schönem hierarchischem Abstieg das nach unverbrauchtem Ausdruck
dürstende Publikum. Tadelnswert ist der Staat dort, wo er sich
mittels Verordnungen direkt in die Benennung der Weltdinge
einmischt und in seiner grenzenlosen Naivität Menschen, Formen und
Dinge durcheinanderwürfelt, bis jedes ein künstliches
Geschlechtsteil im Gesicht trägt wie auf manchen Bildern Savinios
oder auf dem Gemälde eines verrückten Wiedertäufers, der von den
Gesinnungsgenossen in der Münsterschen Aa ertränkt wurde, zum
Leidwesen seiner bis heute hier und da auffindbaren Bewunderer.
Doch muss man zugeben, dass sich der moderne Staat auf diese Weise
eine neue Schicht von Ministerialen erschafft, eine Art Dienstadel
wie im frühen Mittelalter, Lehnsfrauen und -männer, die für ihn
durch dick und dünn gehen, je nach Kleiderordnung.
FOKUSSIERAUSWEIS

Einen Generationswechsel erkennt man unter anderem daran, dass die Leitwörter wechseln. Ich zum Beispiel – erzählt Rabe – hatte den lebhaften Eindruck, weggeräumt zu werden, als in den einschlägigen Kreisen das Fokussieren angesagt war, dieweil sein Vorgänger, die Konzentration, müde geworden der ewigen Anstrengung, vielleicht genervt von perfider Lagerhaft, durchs Hintertürchen verschwand. Psychologen empfehlen das Fokussieren fürs Leben gern. Es gibt ihnen das Bedürfnis, gebraucht zu werden und die Leistung zu erbringen, die dem schlaffen Gegenüber abgeht. Wer sich aufs Fokussieren fokussiert, dem soll es an nichts fehlen. Alles, was die Gesellschaft zu bieten hat, steht irgendwann im Fokus: dort steht es sich gut. Lästig sind nur die Preisschilder. Wenn sie bloß abgingen! Man sähe gleich, was dahinter steckt. So kauft man die Schilder und wird sie nicht los. – Wen scherts? Im Land hat sich viel getan. Auch die Alten fokussieren wie wild, der Bäcker nebenan zum Beispiel, ein Methusalem, der einfach nicht aufhören kann, ist ganz auf Vollkorn fokussiert. Warum nicht? Viele machen mit, um nicht erkannt zu werden, manche empfinden es als Verjüngungsbad. Was wissen wir schon! Genug immerhin, dass es zur Warnung reicht: alles Sinnen und Trachten ist für die Katz, sofern es an dieser Stelle über die Klinge springt. Nein, sie stehen nicht im Fokus, die Alten, ganz und gar nicht, und wenn, dann nur zur Demonstration, dass es noch Leute gibt, die das Fokussieren nicht von der Pike auf gelernt haben. Ja, sie lächeln, die Jungen, angesichts dieser scharf fokussierenden Alten, dann streichen sie das Lächeln aus dem Gesicht und werden ernst. Ein alter Fokussierer, mein Bruder, aber das tut nichts zur Sache, lebt vom Gnadenbrot der Gerichte – sie wissen schon, was er will, sobald er wieder antritt, und gewähren ihm kalt, was er heiß ersehnt: die Gnade der Demütigung.
FOLGEGEISTER

Da nichts ohne Folgen ist, gelten die schwebenden Geister dieser
rätselhaften Strömungen, personifiziert nach ihrem jeweiligen
Anstoß, nicht nur als Verfolger einer bereits rückwärts eilenden
Vergangenheit, sondern selbst als Bedränger der Zukunft, die ja
auch von ihnen verfolgt wird. Durch das öffentliche oder auch
einzelne Schicksal bis weit in die Zeiten vor der Geburt eines
Menschen hat man die Folgeister entweder als drängende oder
fliehende Macht, schädlich entschwebend oder boshaft kommend, im
Rücken oder selbst im Kopf und im Schlaf und zumeist als Flecken
der schmerzenden Zukunft mitten im Auge. Verfolgt wird von allen
Seiten, daran hat sich seit Ewigkeiten nicht das geringste
geändert.
Der seit Urzeiten uns bedrückende Seelenrucksack war anfänglich
nichts als das Netz und der Schnappsack eines beginnenden Daseins,
das sich früh der Natur zu entziehen begann. Am Feuer magisch
entleert lasen schon in frühesten Zeiten Frymerker, die Vorläufer
der Poeten, den Inhalt, als wären es Kräuter der Luft. Wandernde
Kinder fingen sie ein. Im Cruciatus Animae des Feuervaters
vom Lichteler Wölobrunn sind Schuld und Schicksal von Kindern
gesammelt – entweder quälende Lasten im Rucksack oder schmerzende
Flecken im Auge. Indogermanischen Ursprungs, lange vor dem
Buddhismus, galt das verwirrende Schwebegesetz der Folgegeister, in
zweierlei Form vereinfacht, als Schuld und Schicksal oder Schicksal
und Schuld, und ward so zur Ursache jeder Philosophie als Netzwerk
ohne Erlösung.
Im Prinzip ist der Folgegeist dem immerwährenden Unheil eingebunden
und zwar »gleichen Ursprungs, aber geteilten Wesens«, eine
Wesensbestimmung, die auf dem Konzil zu Ephesus von den Magiern
unter den Christen Athens im Namen des gekreuzigten Jesus »wider
die Wohltaten Gottes« durchgesetzt wurde. (Siehe auch die
Gottblätter des Homomaris in Köln.) Erst mit dem Aufkommen
der Gnade verendete diese neue Geburt einer ausschließlich
menschenbezogenen Jesusphilosophie unter den Segensfäusten der
Theologen mit »fauler Psyche«. Noch wenig bekannt ist, dass die
Folgegeister, von welcher Seite auch immer sie wirken und woher sie
auch kommen mögen, ob aus der Natur vor oder nach der Schöpfung,
von höher geordneten Supergeistern verfolgt werden und im mal
governo schlimme Bedrückung erleiden. Sie wüten und strafen im
Niederen und erleiden die Folgen – von vorne bedroht und von hinten
bedrückt durch die Sonderform der infinitas animalis – bis in
unendliche Zeiten.
So zeigt sich im ältesten Werk der bildhaft strafenden Metaphysik,
bei Dante, »des Geometers Bogen« am Ende tatsächlich ja nur als
erster Kreis der Ewigkeit, den der Zirkel als farbige Luft
fahrlässig durchstochen hat. Dieser erste Kreis empfand durchaus
noch den Schmerz seiner Deutung und entwickelte Folgen, die einem
höchsten Zeichen Dantes nicht eigen sein dürften. Dieser höchst
künstliche Sonnenschein in all seinem Leuchten war eben noch immer
ein menschenverwandter Anfang.
In der Nachfolge jener verdrängten Urchristen Griechenlands wird
die Vermessung des Geistes durch falsch durchstochene Luftbilder
als schmerzende Seelenfolge betrachtet und seine Weiterentwicklung
im Kreise der Kaleidoskopen den Schattenforschungen
(Folgenforschungen) zugerechnet. Diese wiederum spielen in der
poetischen Heilkunst die Rolle, den geistigen Schmerz kollektiver
Strömungen zu erforschen. Es heißt beispielsweise bei ihnen:
»Gemessener Geist, (es ist hier die materielle Intelligenz gemeint)
treibt den Kopf an falsche Altäre.« Oder auch : »Wo der Zirkel der
objektiven Wahrheit den Geist durchsticht, entsteht der
schmerzhafte Irrtum«, oder: »Man durchbohre den Geist nicht
außerhalb seiner selbst.« - PM
FOLTERKUR

Jedermann sieht die Spur der Verwüstung, die die Wissenschaften vom
Menschen hinter sich herziehen, ihr ewiges Zu-kurz-Springen, das
die neuesten Forschungsergebnisse mühsam verdecken. Morgen
schon werden sie Schnee von gestern sein, ein müdes Lächeln im
Gesicht der Auguren. Doch heute tun sie ihre Schuldigkeit, daran
besteht kein Zweifel. Jedermann schweigt, er ist niemand, eine
Theaterfigur, und wer geht schon ins Theater. In kaum jemandem hat
das sang- und klanglose Ende der Freudschen Dampfturbine, ›Psyche‹
genannt, den Verdacht aufgerührt, das Spiel der Enttäuschungen
könnte weiter gehen, viel weiter als die methodisch gesäuberten
Phantasien derer erlauben, die heute dran sind. Auch das
Computermodell des Bewusstseins ist vielleicht nicht aller Tage
Abend. Dahinter steckt System. An dieser Stelle nicken viele
heftig, die in ihrem Leben keinen einzigen wissenschaftlichen
Gedanken zu fassen imstande sein werden. Aber wer ist das schon.
Kaum jemand schweigt, das ist sein Markenzeichen, er kann nicht
anders. Dieses vertrackte Schweigen... niemand beherrscht es so gut
wie er, zwischen beiden herrscht eine Konkurrenz, die keiner sieht,
denn dieser sieht immer. Keiner, pflegte Großmutter zu sagen, weiß,
was er sieht. Vertraue niemand! Ein verwegener Rat, wie man sieht,
der letzterem eine Verantwortung aufbürdet, unter der er
zusammenbricht. Hinter dem stürzenden Niemand steigt Jedermanns
Standbild steil in die Höhe: Wer bräche da ins Knie? Umspült von
Wissenschaft, ein Opfer subtiler Folterkuren, ist keiner so wenig
beschlagen, dass er durchschaut werden könnte. Warum auch.
FORESTIER
Können Verse narren? Spiegeln sie ein Leben vor? Sind sie deshalb verwerflich? Diese hier wurden verworfen, weil die Einsicht in ihr Mittelmaß unmittelbar der Erkenntnis entstieg, dass man gefoppt worden war. Warum gefoppt? Ist Literatur nicht
fiction? Wurde der Comte de Lautréamont etwa von einer übellaunigen Kritik geschasst, als Monsieur Ducasse zum Vorschein kam?
Der ganze Vorgang ist äußerst lächerlich – ein Stück Nachkrieg, dem das Wasser am Halse steht. In Wirklichkeit tickte das Wort ›Waffen-SS‹ in der leeren Brust eines ›Frühvollendeten‹, den es so nie gegeben hatte, und niemand wollte in der Nähe sein, wenn es hochging. Stattdessen erwischte es einen Nobelpreisträger, doch da war ein halbes Jahrhundert verstrichen. Seltsam die Rolle des aus dem nationalen Bewusstsein verdrängten Georg Forster im Hintergrund, als Namenspender für einen Angeber, den die Vorsicht zur Tollkühnheit trieb.
FORTSCHRITT

Bei der unbekannten Größe und Form aller Dinge die unbekannte
Richtung als euphorischer Weg in die scheinheilige Nullität der
Geschichte, denn diese allein wird von nun an von uns für gewiss
gehalten. So bekommen wir diesen Wegweiser des Narrentums, von den
wilden Windrichtungen der Windrose weit entfernt, durch die
Einseitigkeit eines Weges nach rückwärts. Wir haben die blitzhaft
zuckende Poesie von Himmel und Hölle verdrängt für die stille Null
eines Nebels von gestern. Sie macht selbst die Erde bodenlos, mit
all ihren technischen Löchern, das sind gerade die Nullen, ebenso
die der Granaten wie der Bohrlöcher.
Dieser Schwebezustand aus Glaube und Technik verläßt die Ställe
Darwins mit Geruch und Geräuschen aus den maskierten Ärschen der
Teufel, wie sie auf gotischen Tafeln gemalt worden sind. Denn
tatsächlich blickt hier die Steißgeburt des Verstandes nach
rückwärts. Zuerst in die Gewissheiten der Materie, dann in die
künstliche Unnatur der Selbstbarbarei und schließlich auf die
Schlachtfelder der Gemeinheit als großes Regietheater der
Geschichte. Die Blicke werden gemessen, sie werden berechnet und
bilden so die schrittweise explodierenden Gewissheiten, gleichsam
die Artillerie der Verblödung. Indessen steht die verkommene
Aufklärung mit dem gesenkten Phallus als Fackel aus Gummi
kreischend daneben, als sei sie soeben vom Lautsprecherwagen einer
Love Parade geklettert, um dem Menschenzoo näher zu sein. -
PM
FRAUENBEIN
Das wohlgeformte Frauenbein gibt es nur aus besonderem Anlass. Allein die wahren Inhaberinnen des Fleisches haben nichts zu verbergen und zeigen, was sie haben, bis an die Grenze, an der es verschwimmt. In diesem Frühjahr schaffen es selbst die an Jahren fortgeschrittenen Frauen, dass ihre Beine sich wie schwarze Würmer aus den angesagten hemdartigen Bekleidungen zu Boden ringeln. Was das alles bedeuten mag? Man sollte sich notieren, in welchem Jahr man sich bewegt, wenigstens das, bevor alles in einem anderen Einerlei aufgeht, das, wie jedes Einerlei, nur die Notdurft über dem Vielerlei zeigt.
FRAUENFEINDLICH
Die Frauen in den liberalen Gesellschaften werden dieses
Etikett noch gründlich verfluchen, wie es einige ja bereits
tun. Es räumt Widerstände dort weg, wo sie vielleicht dringend
gebraucht würden, um schreckliche Rückschläge zu vermeiden oder
auch nur, um dem klassischen Eignungsdilemma auszuweichen. Aber es
geht ihnen bloß wie der mobilen Gesellschaft mit dem wachsenden
Wald der Verbotsschilder: sie blockieren das Denken an Stellen, an
denen es sehr zu empfehlen wäre. Die beamteten Macher fürchten das
ewige Problematisieren, sie wünschen freie Fahrt. Das Wort
›wirtschaftsfeindlich‹, weniger gefragt zu einer Zeit, in der sich
die staatlichen Instanzen vor Willfährigkeit überschlagen, wirkt da
wie ein Menetekel: einer Macht, die alle Türen eindrückt, wird man
niemals Genüge leisten. Auch diese Macht ist nicht
die Wirtschaft, sie versteckt sich in,
gelegentlich hinter ihr und möchte nicht genannt werden. Die Macht
des Wähnens ist herrenlos: eine Karte, die jeder zückt, der sie
zufällig in die Hand bekommt. Manche Hände halten sie auffällig
oft.
FRAUEN-GHETTO
Eine interessierte Gesellschaft behandelt die Frauen
in summa und sperrt sie damit nachhaltig ins Frauen-Ghetto, das gerade zu öffnen sie ihnen versichert. Das gibt eine schöne Empörung, die sich in Feuilletons und dem kritischen Buch der Saison zu entladen weiß. Und sie bleibt wahr, solange es keiner Stützungskäufe bedarf, um die Währung ›Frau‹ vor dem Absturz in die gefährlichen Regionen des Weiblichkeitswahn zu bewahren. Nicht ob die Frauen mit den Verhältnissen, wie sie sind, zurechtkommen, ist die Frage, sondern ob man sie zurechtkommen lässt. Alles Zurechtrücken von Frauenbildern erzeugt nur Mode und Maskenbildnerei, alles Unterschieben von Fördermitteln und Extragewinnen aus Geschlechteranteilen steht im Verdacht, einem Weltbild zu huldigen, das der
Apollonius von Tyrland, ein Ritterroman des späten Mittelalters, bündig zusammenfasst: »Ain weyb ist ain halber man«. Auch damals ging es um Frauenförderung, gelegentlich wäre es an der Zeit, sich auf die Wurzeln zu besinnen.
FRAUENSACHEN

Immer, wenn die Frauenfrage gerade entbrennt, trägt sie den neuesten Schick, und immer verabschiedet sie sich in den Gewändern der Suffragetten von anno dunnemal unter der Versicherung, darum gehe es nun wirklich nicht mehr und frau hätte andere Sorgen. Übrigens ist das nicht nur eine Angelegenheit wechselnder Zeiten, sondern auch wechselnder Gemüts‑ und Lebenslagen, was ohne weiteres einleuchtet, weil die sogenannte Frage, genau betrachtet, ebenso wenig existiert wie sie nicht existiert. So wenig sie einst durch die überfällige, ein Jahrhundert lang aufgeschobene rechtliche Gleichstellung abgetan werden konnte, so wenig bringt die administrative Frauenförderung sie einer abschließenden Lösung näher. Stattdessen bringt sie, neben Vorteilen für Schnellentschlossene, neue Stressmodelle zum Tragen und wirft Fragen auf, die unbedingt beantwortet werden müssen, falls man sie nicht gerade vergessen möchte, weil eine bestimmte Art zu fragen mehr an den Abgründen kratzt als konstruktive Potentiale entbindet. Eine ethische Dimension allerdings hat die Frauenfrage und vielleicht liegt in ihr die Frage der Frage selbst beschlossen. Man kann die Frauen nicht fragen, was ihnen frommt, um diesen etwas altväterlichen Ausdruck hier zu benützen. Natürlich kann man sie fragen, kreuz und quer, mit Häkchen und Kreuzchen und ja und nein und Präferenzen und ›weiß nicht‹, aber diese Antworten bleiben stumm, weil sie immer nur Auskunft darüber geben, wie es die anderen halten. Die Lage der Frauen ist so, dass ihr bloßes
Frausein nirgendwo ihre Interessen begrenzt oder ›definiert‹: so weit, immerhin, sind die Dinge
nun wirklich gediehen und niemand sollte Uhren willkürlich anhalten, am wenigsten Uhrmacher.
FRAUSEIN

Wer die sogenannte Frauenliteratur ein dürftiges Zeug zu nennen
wagte, hätte sie alle gegen sich. Dennoch empfinden die meisten
Frauen so und geben es unumwunden im privaten Gespräch zu
Protokoll. Sie schütteln den Kopf über die Männer, die nichts zu
bemerken vorgeben, die, wie immer, positiv entflammt sind, und
wissen Bescheid. Kalt taxieren sie die Motive derer, die den großen
Wandel der weiblichen Lebensformen, das neue Selbstbewusstsein und
die ererbten Einstellungen, die darin fortwirken, zu erwünschten
Geschichten und angesagten Begriffsmustern verarbeiten. Warum das
so ist? Sie kennen das Schweigen, das im weiblichen Schreiben
fortdauert, zu gut, um sich über seine Ziele zu täuschen, während
die Männer diesem wie allem Schreiben eine Art von Hilflosigkeit
entgegensetzen, als müssten sie den Sinn darin gegen den Widersinn
der Subjekte ertrotzen. Zu den Asymmetrien der Kultur gehört, dass
Frauen die besseren Biographien schreiben, weil sie, anders als die
Männer, nicht immerfort werten und sich dadurch das Beste entgehen
lassen. Über das Schweigen ist viel geschrieben
worden, darin liegt ein kaum zu vermeidender Fehler. Es schweigt
sich schwer über etwas, dessen Auswirkungen man alle Tage erlebt.
Wäre es aufzulösen, so wäre es längst verflogen wie so mancher
Hautgoût, den man nicht wegzubekommen meinte. »Wer viel redet,
verschweigt viel« – das mag gelegentlich richtig sein, sollte aber
um die Anmerkung ergänzt werden, dass nicht alles, was jemand
verschweigt, privater Natur sein muss. Man verschweigt gern, aus
Diskretion und anderen Gründen, was das Geheimnis aller ist. Von
ihm handeln die guten Biographen unter dem Schleier des
Persönlichen. Die ›Bewegten‹ erklären die Person gern zum
Konstrukt, das heißt, sie sind drauf und dran, das Geheimnis
auszuplaudern, aber es gelingt ihnen nicht, denn es ist
unaussprechbar, die Sprache scheut vor diesem Punkt zurück. Person
oder gar nicht sein – die Alternative gilt vielleicht eingeschränkt
für die vielen gesichtslosen Funktionsträger, die vergeblich nach
Büroschluss ›nach Hause‹ streben, wohl wissend, dass sie dort
nichts erwartet. ›Frau‹ wird man so nicht.
FREIDENKER

Man kann sie nicht scharf genug trennen: ein ›freier Denker‹ ist, wer keine Rücksicht auf Konventionen nimmt, jedenfalls nicht im Denken, einer, der bei Bedarf auch die Konventionen aufs Korn nimmt (nicht um sie abzuschießen, sondern um die Kenntnis von ihnen zu schärfen), einer, der Denken nicht tugendhaft, sondern als Tugend betreibt … der Formeln sind viele, das Ergebnis bleibt stets dasselbe. Der freie Denker ist im Denken frei – er nimmt sich nicht frei, er hat nicht frei, er verdrückt sich nicht, weil ihm seine Freiheit lieb ist, er nötigt sich nicht auf, weil ihm die Freiheit der anderen wichtiger scheint als die eigene, er will das Gleichgewicht der Welt nicht verändern, er will es auch nicht erhalten, er will es nicht einmal wissen, denn auch der Wille zum Wissen scheint ihm allzu gebunden zu sein: er droht ihn zu fesseln. Das ungebundene Denken empfindet die selbst-fabrizierten Fesseln am stärksten und streift sie ab. – Jetzt aber der ›Freidenker‹: er dünkt sich nicht frei, er denkt sich frei, er denkt sich heraus aus der Unfreiheit, die ihn sehr beschäftigt, im Grunde weiß er sich nichts anderes. Er lehnt die Unfreiheit so sehr ab, dass sie ihn ganz erfüllt, er denkt, es muss einen Ausweg geben und sucht ihn verzweifelt oder voller Hoffnungen und resigniert, sobald er bemerkt, dass er doch wieder in den alten Bahnen wandelt, ja wandelt, ein ›Wandelstern‹ auf verschlungenen Wegen ums allzeit verschlossene Paradies, ein rekursives Postulat der Vernunft.
Denke dich frei! Doch dazu musst du dich wandeln. »Du musst dein Denken ändern!« Daran denken Freidenker alle Tage, es verfolgt sie im Schlaf, es verfolgt sie wie eine nie mehr abzutragende Schuld, denn, unter Freidenkern, die Änderei, was hat sie bisher bewirkt? Was hätte sie bewirken sollen? »Ich denke jetzt anders darüber.« So reden Geschäftsleute, falls ein Geschäft sich überraschend als unvorteilhaft erweist. Das bedeutet: »Ich würde, nach dem, was ich heute weiß, im Nachhinein gern die Finger davon lassen, aber es ist nun einmal geschehen, also reden wir nicht mehr darüber.« So sieht es aus, das andere Denken. »Gestern glaubte ich dies, heute glaube ich jenes.« Neues Denken, neue Irrtümer. Doch in den neuen stecken die alten. Sie haben sich gut maskiert, aber irgendwann wird die Maskerade lästig und auch der letzte Mohikaner erkennt:
So einfach ist das nicht. Zwischen den Polen ›Das geht doch ganz einfach‹ und ›So einfach ist das nicht‹ schwingt die Freidenkerei – hin und her, her und hin, die Schaukelei gefällt ihr, sie mag sie nicht missen, es nimmt sie ihr auch niemand weg.
FREIGEIST

Es handelt sich bei ihm um ein vollkommen anderes Wesen, als es
sein vermeintlicher Ursprung aus der neueren Vernunft vermuten
lässt. Der wahre Freigeist ist vom Schnee der Blindheit umhüllt,
ein empfindsamer Schneemann, der die treibenden Flocken des
Neuschnees als durchsichtige Gedanken empfängt und mit dem Kern
seiner erfrorenen Tiernatur zu verbinden weiß. Die rote Möhre, die
ihm die Kindsnatur seiner Verehrer in den riesigen weißen Kopf
stößt, macht ihn in der einfachsten Weise blumenhaft. Mehr
Schönheit duldet er nicht. Der Rauch der Feuer in den Kaminen ist
ihm zu seiner Zeit, wenn er sich draußen sehen lässt, lieber als
das Feuer selbst, denn auch sein ganzes Gemüt ist weiß wie Schnee
und entsprechend empfindlich gegen die Hitze. Die Freigeisterei
bestimmt ihn, kälter zu leben als andere Menschen, feuerfrei ist
für ihn keinen Flintenschuß wert, vielmehr horcht er an den
öffentlichen Türen, ob die törichten Freuden um den Kamin,
politisch gefärbt, die Geschichte entstellen. Die Übereinkunft der
Lügner macht ihn noch kälter. Seine kleinen Verehrer liefern ihm
die aufgeschnappten Tabus und lassen auch sie, mit dem Freigeist
gemeinsam, von Neuschnee bedecken. - PM
FREIHEIT

Umsetzungsauftrag der Geistesmusik, sowohl von Beethoven wie
Bruckner. Ein Kriegsbegriff der Erlösung wohnt ihm inne und selbst
Napoleon konnte nur auf diese Weise von Hegel als Weltgeist erkannt
werden.
Die schwarzen Sklaven sangen bei ihren Aufständen auf Haiti: »Grenadiers
à l’assaut! / Ça qui mouri zaffaire à yo!« »Wer stirbt, ist selber
schuld.« Eine gewaltige Erkenntnis zum wahren Freiheitsbegriff, der
vom Christentum weit entfernt ist. Vielleicht heute noch in Indien
begreifbar.
Der Grundzug dieses Erlösungsgedankes besteht wohl darin, das Magma
der Erde durch die Schächte der Finsternis empor zu drängen, um,
oben angelangt, die Äcker so fruchtbar zu machen, dass sie, mit
Weinbergen bedeckt, dem Brot noch den Wein hinzufügen können.
Vulkanismus hieß dieser dem Geist der Urmutter Gaia und dem Bacchus
entsprechende Fruchtbarkeitskult, der, trotz der strengen Sitten
der Römer, seit Scipio-Asiagenes als berechtigte Trunksucht im
Geiste vulkanischer Erdunterstützung geduldet wurde. Durch die
Nutzung der geweihten vesuvischen Erde wurde der heilige Wein an
den nachmaligen Hängen des Lacrima Christi von beiden Gottheiten
geschützt. Heilige Trunksucht und lateinischer Erdmagnetismus sind
hier eng und wohl auch dionysisch miteinander verknüpft. Selbst die
Gänse des Kapitol wurden seit jener Zeit mit Brotbrocken ernährt,
die zuvor in den köstlich braunen vesuvischen Rotwein getunkt
wurden.
Die bedeutenden Suffragetten Italiens waren bei ihrer Gründung 1878
noch so klug, die Kapitolinischen Gänse zu ihrem Wahrzeichen zu
wählen, und das altehrwürdige Ristorante
Oca di Roma an der
Milvischen Pforte war bis 1923 ihr Vereinslokal.
Die Freiheit, für sich genommen, ist ohne Verfügung durch Götter
saturnisch-chaotisch und reine
Kunst, die indessen bezeichnenderweise
und lange genug, bis zur Erfindung der Stahlfeder, von Gänsekielen
begleitet wurde. - PM
FREISEMESTER

Wenn sich ein zaghaftes Professorenstimmchen aufs Feld der Politik verirrt, dann ›gibt es zu bedenken‹, es ›könnte sich vorstellen‹, es ›hielte für vernünftig‹. Kaum aber wird es angeschossen, reagiert es wie von der Tarantel gestochen und giftet zurück, es vergiftet sich ganz und gar an seinem Abscheu, der nichts weiter darstellt als eine auf die abschüssige Bahn geratene Scheu, teils vor dem Unbekannten, teils vor der Macht, die von ihm ausstrahlt, teils vor der schwer kontrollierbaren Gewalt, die von ihm ausgeht. Manche, die sich ansonsten ganz im Hintergrund halten, schießen gegen den geringfügig mutigeren Kollegen, sie fürchten, dass er das Gift in ihre Kreise hineinträgt und tragen es schon im Leib. Menschen, die nichts weiter haben als ihren Ruf und das gesicherte Auskommen, das er ihnen bereitet, müssen vorsichtig sein, dass er nicht durch Gebrauch Schaden nimmt, es könnte sein, dass er ihnen auskommt und chancendämpfend auf die Karriere zurückschlägt: die Welt soll ihnen offen stehen, vor allem die Posten, die darin verteilt werden. Alles andere wäre ein wirkliches Desaster.
FREITREPPE

Sie trieben das Buch über die Freitreppe hinauf und verfolgten es
in die hintersten Räume, wo sie es endlich stellten: so entsprang
hinter der Bibliotheca Laurentiana der St. Lorenzstrom der
Literatur, in dem es von Monstern wimmelt, vor denen sich jede
Haifischflosse verzieht. Das Ungeheure, zum Ereignis geworden,
diminuiert sich selbst und seine Umgebung, das bewirkt der
Schatten, den es wirft und in den es sich stellt, als sei er der
große Bruder und verfüge über alle Mittel, den Kampf zu beenden,
bevor er begann. Welchen Kampf? Das ist das Geheimnis aller
Piraten. Freischärler, Aufständische aller Art haben davon gekostet
und Blut geleckt, am Ende hat man sie totgeschlagen. Im Kampf der
Deutungen leben sie weiter, Blutsäufer auch als Schattenwesen, mit
Brille und Haarnadel, als kämen sie frisch vom Trödel. Nichts liegt
ihnen ferner, nur das Herabschreiten beherrschen sie, als ginge es
immer noch himmelwärts. Wo sie irgend Grund berühren, ergreift sie
die Wallung. Deshalb hält man sie hoch, so gut man kann. Über alle
Köpfe hinaus, über die Herzen: sie leben doch, die Guten.
FREIVOGEL

»Meinen Großvater hat man erschossen, die Waffe über der Schulter, das rauchende Wild in der Hand – auf frischer Tat ertappt, wie es heißt. Gern würde ich mich an sein Gesicht erinnern, doch das ist ausgeschlossen, ich war nicht dabei. Vielleicht hat man ihn gar nicht erschossen? Vielleicht wurde er weggesperrt und die Familie will nichts davon wissen? Sie wäre die erste nicht. Ich gehöre zur Familie, ich bin ein Teil von ihr – warum sollte gerade ich wissen wollen? Nein, ich will es nicht. Erinnern will ich mich – wenn es sein muss, auf eigene Faust. Diese Faust … sie ist das einzige, was ich habe, sie will geschwungen sein, egal, wieviel Kraft in ihr wohnt. Der unbändige Wille zur Erinnerung treibt mich in die Wälder, ich habe mir eine Waffe besorgt, ganz legal. Woher kommt es, dass ich mich vogelfrei fühle? ›Vogelfrei‹ ist vielleicht nicht das richtige Wort, ich will mich keinem Vogel vergleichen, höchstens einem schrägen, manchmal trifft man einen im Walde. Aber meinesgleichen war nie dabei. Ich bin, der ich bin. Wem soll ich es sagen? Bin ich ein trotziges Kind? Wem will ich trotzen? Der Witterung? Das lässt sie kalt.«
FREMDGEDANKEN

Fremdgedanken sind heimliche Gedanken, also solche, von denen der Organismus unwillkürlich annimmt, dass sie sich einem Fremdgehen verdanken, und die er deshalb zu verheimlichen strebt. »Welcher Organismus«, fragt G., er scheint zerstreut zu wirken. Keine Ahnung, was ihn gerade beschäftigt. »Lieber G., du hörst mir nicht zu, sonst wüsstest du gleich, wovon ich rede. Wäre es anders, so wärest du nicht gerade jetzt mit anderem beschäftigt. So aber weißt du recht gut, dass deine eigensten Gedanken dir am fremdartigsten erscheinen. Was soll das schon heißen: dir? Wenn du das Tier darin nicht erkennen willst, ist dir nicht zu helfen. Warum auch? Wenn Gedanken sich in Tiere verwandeln, wenn sie eine fremde Witterung annehmen, wenn sie beschnuppert werden wollen, wenn ihre Anziehung mächtig ist, obgleich ihre gedankliche Potenz gering erscheint, dann deshalb, weil der Organismus mit ihnen etwas anfangen kann und folglich bereits angefangen hat. Welcher Organismus?« »Lieber A., du hörst mir nicht zu: gerade das war meine Frage. Aber da du sie nicht beantworten kannst, will ich es versuchen. Was du gedankliche Potenz nennst, ist nur das wundersame System aus sich gegenseitig stützenden Annahmen, in denen ein einzelner Gedanke steht wie im Garten Eden. Diese Annahmen sind viel zu komplex, um präsent zu sein, sie werden vertreten von etwas flächiger geratenen Vorstellungen, die man die liebgewonnenen nennt, doch das ist ein Thema für sich. Aber das einfache, starke Gefühl, das damit gemeint ist, wird durch deine Fremdgedanken Lügen gestraft. Sonst noch Fragen?« »Du meinst...?« »Jeder Fremdgedanke ist ein Abschied vom Paradies, er spricht dem Einverständnis Hohn, das zwischen den Beteiligten herrscht. Sei unbeteiligt! Nur so viel, dass der Abschied in dir eine leere Hülle findet.«
FREMDHEIT

Zu Beginn und am Ende des Rennens überwiegen die Fremdheitsgefühle.
Wenn die verzerrten Gesichter zurücktreten, wenn die Schwelle höher
liegt als erwartet und die Distanz kurz erscheint, wenn die Leute,
an denen man vorbeizieht oder deren wortloses Gekeuche einen eine
Zeitlang begleitet, so belanglos und selbstversunken erscheinen,
dass es dich graust, wenn das Rennen ebenso entschieden wie nutzlos
zu wirken beginnt und die Strecke sich in lauter Nebenwege
verzweigt, während die aufgewirbelte Aschewolke einen zweiten,
künstlichen Horizont zeichnet, der jeden, der sich umblickt,
erschreckt, wenn plötzlich die Toten, ausgeruht, wie es scheint,
neben einem auftauchen und sich nicht um das angeschlagene Tempo zu
kümmern scheinen, wenn Leute, mit denen man früher das Ziel zu
teilen glaubte, aus ganz anderen Vergangenheiten hervorzuströmen
beginnen, dann verwandelt sich der Läufer in einen von jenen
Schachspielern, die fast menschengroße Figuren auf schwarzen und
weißen Flächen herumschleppen, immer in
Angst, die Anordnung der Felder aus dem
Auge zu verlieren und sich an falschen Rändern in Illusionen über
das Spiel zu ergehen. Er verwandelt sich und läuft dabei weiter.
Wohin? Wenn er das wüsste, dann wäre ihm vielleicht wohler. Er weiß
es aber nicht, deshalb bleibt auch das bloß Vermutung.
FRENETISCHE PRIVATHEIT

Dischko, mit diesem unfassbar feinen Gehör begabt, regt an, als
PolitikerInnen nur zuzulassen, wer sein privates Dasein unmittelbar
in Politik zu überführen vermag. »Kosmos, Oikos, Phrenos« sagt er
mit einem leicht drohenden Unterton, man kann nicht unterscheiden,
ob er damit meint: ›Wie der Herr, so’s Gscherr‹, aber aufgrund
seiner nicht geschlechtergerechten Sprache scheidet der Spruch
ohnehin aus. Es gibt auch andere, die man zitieren könnte, doch
worum es dem Autor geht, ist die Vereinbarkeit. »Geht doch!« ist
seine Standardformel, wenn die Durchstechereien von Leuten ruchbar
werden, die behaupten, sie könnten ihre eigene Steuererklärung
nicht lesen. »Geht doch!«, wenn sich Leute nach einer Nacktstrecke
warm anziehen dürfen. »Geht doch!«, wenn die Ministerin eine
Pferdezucht und Kinder wie Orgelpfeifen vorweisen kann. »Geht
doch!«, wenn der Gesamtschullobbyist seine Kinder aufs Gymnasium
schickt, »Geht doch!«, wenn die Haushaltsexpertin nach einem
häuslichen Anruf unwillkürlich in die alte Rechtschreibung
verfällt, »Geht doch«, wenn die verunsicherte Hinterbänklerin ihre
illegale Putzfrau gegen eine Fortbildung tauscht, »Geht doch!«,
wenn der Herr Amtsanwärter mediengerecht die Klinken seiner Frauen
putzt, um zu zeigen, dass ein Mann nicht nur Nerven, sondern auch
Psyche besitzt, »Geht doch!«, wenn dem Eurokommissar die
Tabakkrümel vom Anzug rollen und das Geschwader
der CO
2-Reduzierer seine Urlaubsmaschinen besteigt.
Was geht und was nicht geht, geht selten zusammen, allenfalls die
Treppe herunter, dann wird es sichtbar. Wie sie hinaufgekommen
sind, wer soll das wissen? Man wird PolitikerInnen
karrieren als ordentliche
Staatsgeheimnisse zu behandeln sich entschließen müssen, damit die
Ausgießung des Privaten in Form von Gesetzen und Verordnungen
ungehinderter vonstatten geht, als dies heute bereits der Fall ist.
Der Schein der Sichtbarkeit sollte die Ersten unter Ihresgleichen
umglänzen, nicht umwabern, wozu gäbe es sonst Reformen.
FRESSE
Sobald die
performance beginnt und die angehübschten Interessenvertreter sich vor den Studio-Kameras das Wort aus dem Munde nehmen wie ein falsches Gebiss, versinken das Leid und das Elend der Welt und die Sorge um die gemeinsame Zukunft zeigt, was manch einer eine Fresse nennt.
FREVEL
»Der Frevel ist stets eines Steinmetzen Kappe gewesen.« So heißt es
in Christian Lodendorffs Schrift Über die Spitznamen des Teufels. Die
Kappe war ursprünglich die gebräuchliche Mütze der Steinmetze, der
›Mäzenes‹, bei der Arbeit auf hohen Türmen. Als Windmütze bestand
sie aus Leder und aufgenähen Plättchen aus Alabaster, gelegentlich
wohl auch aus Schiefer. Im Umkreis des Kölner Doms oder an
ähnlichen Plätzen in Straßburg, Ulm oder Speyer fand man sie
haufenweise sowohl aus Pergament wie aus Ziegenleder.
Neuerdings fand man sie auch bei Lützen und Magdeburg als billige
Sturmhauben ärmerer Landsknechte, wodurch ihr Name wohl erst in
Verruf geriet, denn diese wüteten (›frevelten‹) am ärgsten. -
PM
FRIEDENSPACHT
Kleine Schwester der Friedensdividende, die einstreicht, wer friedfertig und reinen Herzens ist. Die kleine Schwester trägt, wie so oft im Leben, Bosheit im Herzen und lächelt süßlich, sie hat den Frieden gepachtet, aber die Pacht läuft aus und keine Verlängerung ist zu erreichen. »Friede!«, säuselt sie unentwegt, »Friede, Friede, Friede!« Sie lässt sogar Plakate drucken, auf denen weiter nichts steht, nur das kleine Logo am unteren Rand weist darauf hin, dass es ihre Plakate sind und die Botschaft ihr gehört, ihr ganz allein. Das ist zwar gelogen, aber sie kann so bitterlich weinen, dass man nicht weiter darauf beharrt und ihr zur Aussöhnung einen Fuffziger schenkt. Das macht sie wieder froh und lässt ihre Äuglein glänzen.
FRIEDHOFSKULTUR

»Friedhöfe – das Gedächtnis unserer Stadt.« Man muss den Satz zweimal lesen, um seine
Ungeheuerlichkeit zu begreifen. Beim dritten Mal
fällt einem ein, wieviel schlichtes Wissen um die menschlichen
Dinge beerdigt wird, sobald es einer Theorie beifällt, Gedenk- und
Gedächtnisorte so miteinander zu vermengen. Dabei sind selbst die
Gedächtnisorte ›im engeren Sinn‹ wie Bibliotheken, Archive, Museen
nicht ohne Tücke. Allzu oft vernebelt die Rede vom kulturellen
Gedächtnis den einfachen Tatbestand, dass Gedächtnis ohne
Bewusstsein nichts weiter ist als eine Schimäre. ›Da drinnen‹
findet es statt, nicht in reizvoller Innenstadtlage mit anhängigem
Cafébetrieb. Aber was heißt schon Bewusstsein angesichts von
Leuten, die einem mit starrem Blick versichern, das sei ihnen
durchaus bewusst. Sie haben es nicht besser gelernt; nichts anderes
besagt ja die Theorie, die sie instinktiv für richtig halten, weil
ihnen der theoretische Sinn abgeht, den sie ›im Betrieb‹ täglich
unter Beweis stellen müssen. Dass sich Unsinn tradiert, bedarf
keiner weiteren Erläuterung. Man muss nur die Inschriften auf den
Friedhöfen lesen, um zu wissen, wie im Erbfall gelogen wird.
Insofern sind die Gedächtnisse, immer hübsch im Plural, der
Friedhof der Vergangenheit. Kein Gedanke ist Vergangenheit – er ist
Gegenwart oder gar nicht, wie die Würmer, die ihre Bahn durch die
teuren Toten ziehen und dafür sorgen, dass nichts Nennenswertes von
ihnen erhalten bleibt außer ein paar Knochen, an denen jeder
Gedanke versagt.
FRUCHTBARKEITSRATE
Wer zur Fruchtbarkeit rät, der gerät rascher an sie, als ihm lieb ist. »Seid fruchtbar und mehret euch!« Das ist biblisch, aber den Bibelkundigen wächst es zu den Ohren heraus, vielleicht auch zur Nase, man sieht solche Leute nicht an, weil ihr Ansehen ohnedies groß ist. Mehrt sich die Menschheit, so mehren sich die Bedenken. Allerdings mehren sich die Bedenken nur in den zugewiesenen Arealen, also dort, wo die restliche Menschheit Niedergang ortet:
Eure Probleme hätten wir gern! Wirklich? Oh nein, um nichts in der Welt. »Erlösung dem Erlöser« singt man bei Wagner, das juckt die Frommen, die sich längst selbst in die Erlöser-Pose geschwungen haben, weil es sie aus ihrer Ratlosigkeit zu holen verspricht. Europa importiert die Fruchtbarkeit, die ihm selbst abgeht, aus Gegenden, in denen sie wild wächst, weil es glaubt, es könne sie zu Arbeiten zähmen, auf die es nicht verzichten will, ohne sie auszuüben – und sei es nur, damit ihm die Renten pünktlich gezahlt werden. »Wer soll unsere Renten bezahlen?« murmeln die letzten Menschen, wissend, dass draußen Interessenten Schlange stehen, die auch an ihnen interessiert sind. So eine Rente ist schließlich das Letzte, was sich ein Mensch im Leben gönnt, außer dem Sterben, das später kommt und daher außer Betracht bleibt. Immer älter zu werden ist eine fixe Idee, die nach und nach alle anderen auffrisst, mit Haut und Haar, mit Knochen und Eingeweiden, sie entspringt der Ratlosigkeit, ohne sie je zu verlassen, sie dehnt und dehnt sie – man sollte denken, sie müsste irgendwann platzen, aber das wäre nicht ihre Art, sie kommt mit jeder Größenordnung zurecht. Am ratlosesten scheinen die jungen Frauen, sie ließen sich gern beraten, aber die Verantwortung wäre zu groß und deshalb findet sich niemand. Also warten sie ab und achten auf ihre Linie. Erst wenn guter Rat teuer ist, springen die Ratgeber aus den Ecken: auf diesen Moment haben sie gewartet, sie glauben an
win-win-Situationen, die ihnen die Taschen füllen, während die Klienten viel von ihnen lernen dürfen.
FRÜHLINGSGERÄUSCH
Man geht als Ertrinkender hinaus und kehrt als Angeschossener zurück.
FÜHLIGKEIT
Glauben Sie mir: die Wetterfühligkeit hat mich gemacht. Diese
Möglichkeit, alles, was einen bewegt, nach außen zu tragen, es dem
immer beweglichen Elementargeschehen anzuhängen, ist sehr bequem,
wenn man weiß, was man will. Zu wissen, was man will, kann
ausgesprochen hinderlich sein, weil man leicht dahin gerät, zu
stark zu wollen oder zu direkt oder auch nur zu wollen. Da macht
sich das Wetter verdient, es sorgt für Doppelungen,
Verschleifungen, Spiegelungen, Eintrübungen, Aufruhre, Aufschübe
und Verdämmerungen, es rührt den Schmerz hinein und die Lust am
Dasein, lauter Dinge, die dem, was einer will, eine Wirklichkeit
vor jeder Wirklichkeit anhängen, die dann auch nicht mehr vonnöten
ist, wie man sagt, obwohl sich daran die Geister scheiden. Ich für
meinen Teil spüre die Nötigung und sie leistet mir gute Dienste.
Andere mögen es anders halten. Warum miteinander rechten? Es ist
unnötig, sage ich ihnen, und mehrt die Notdurft.
FUNDAMENTAAL
Dieser Aal lebt in trüben Gewässern, dort, wo sich wenig bewegt. Er selbst erscheint immer bewegt, wenngleich die Geschwindigkeit, mit der er vorwärts gleitet, in den Augen derer, die ihn lieben, zu wünschen übriglässt. Aber wer liebt ihn schon? Leute, denen das Wasser im Munde zusammenläuft, wenn sie daran denken, dass sie ihn schlachten werden, sobald er dick und fett geworden ist. Bis dahin lassen sie ihn schwimmen, sie wissen ja, wo er steht.
FUNDAMENTALISMUS
Man kann alles zum Ismus machen, warum nicht ein Fundament? Freunde, das geht ganz einfach. Man klingelt die Hausbewohner zur Nachtzeit heraus und warnt sie, in der Stimme den blanken Terror:
Das Fundament, das Fundament … ja was denn?
Etwas Furchtbares braut sich zusammen. Am besten, man verteilt Handzettel, das erzeugt immer Eindruck und niemand liest schon genau, besonders in dieser prekären Lage. Da stehen sie jetzt im Nachtzeug herum, es ist kalt, ein Eishauch streicht übers Haar, die Frauen legen Kopftücher an und die Männer … ach die! Sie sprechen sich Mut zu, ein Rachenputzer käme nicht ungelegen, derweil überschlagen sie ihre Barschaft und was der Auszug sie kosten würde. Inzwischen rollen die Bagger an, die Hälfte des Hauses liegt bereits in Trümmern, die Nachbarschaft regt sich tierisch auf und die Polizei … wo bleibt die Polizei? Aaaah, da erscheint sie schon, gerade noch rechtzeitig, um den ersten Ausraster wegzufischen. Beim nächsten wird ihr das nicht mehr so leicht gelingen. Steigt der Aggressivitätspegel, so mutiert der Mensch zur Rotte. Wer zum Teufel hat behauptet, dass am Fundament etwas nicht stimmt? »Auf dieses Fundament war und ist Verlass, mehr als auf alles andere, wer es angreift, dessen Hand soll verdorren, dessen Name sei verflucht, sein Eigentum in alle Winde zerstreut. Wo steckt der Hund? Eben war er noch da. Keine Angst: wir werden ihn schnell genug finden, ihn und seine Sippe.« Unter Fundamentalisten: Wie konnte, was für die Ewigkeit gebaut schien, so rasch in Verruf geraten? Was nun? Wenn Fundamente wanken, dann purzelt der Mensch. Umgekehrt gilt: Das muss nicht sein.
FUNDAMENTALKRITIK

Das ist meine Vision von Fundamentalkritik: die Post versichert, sie
wurde zugestellt, aber der Empfänger weiß nichts davon, er hat
nichts bemerkt und sie ist, zum Leidwesen ihres Verfassers, nirgendwo
aufzufinden – bis, Jahre später, die freundliche Nachbarin ein
verstaubtes Päckchen zum Vorschein bringt: Was ist das? Wo kommt es
her? Das wurde hier vergessen, aber von wem? Fundamentalkritik ist so
fundamental, dass derjenige, der sie ersinnt, nicht anders denken
kann, als dass die Fundamente, ihr ausgesetzt, unverzüglich zu
wanken beginnen. Sie wanken aber nicht, sie stehen fest wie zuvor.
Wenn das ein Angriff war, wo fand er statt? Die Kenner schwanken
noch, nicht, weil sie einen über den Durst getrunken haben, sondern
weil die Materie so überaus diffizil ist, dass man sich leicht die
Finger verbrennt oder ins Abseits gerät – eine bemerkenswerte
Alternative, kommt häufiger vor als man denkt. Was dem Denken keinen
guten Leumund ausstellt: warum denkt es nicht häufiger? Allerdings
ist es mit der Häufigkeit nicht getan, es muss noch etwas
hinzukommen, etwas, das die Alten Ich-weiß-nicht-was nannten, und
tatsächlich, sie wussten es ebenso wenig wie ein
Fundamentalkritiker, mit dem Unterschied, dass er das
Ich-weiß-nicht-was nicht kennt. Dabei weiß er so vieles nicht und
keiner bringt es ihm bei, denn er ist immer zu schnell und geht nur
auf die Fundamente. Das wurmt die Menschen, die meisten lassen auf
die Fundamente nichts kommen und ärgern sich bloß, wenn es zum Dach
hereinregnet oder wenn der Strom ausfällt. Das ist ein Fehler,
gewiss, aber deshalb gleich das ganze Haus abreißen? Wo kommt man da
hin?
FUROR

Die rohen Kräfte des Denkens wollen entfesselt werden, sie kratzen
an den Käfigen, in die man sie gesteckt hat, zusammen mit den
feineren, die bei dieser Gelegenheit lernen, was das Leben von
ihnen fordert, zumindest sollten sie das, der Theorie nach. Was am
Ende herauskommt, davon erhält man selten einen Begriff. Warum
auch? Begriffe, als Umwege definiert, werden niedergerannt, wie es
nur geht und steht, die Vorgärten, einst blühende
Musterlandschaften, sind von Maulwurfsgängen unterminiert und
zeigen in der Draufsicht zarte Arabesken aus Trampelpfaden, die der
Blick aus der Nähe so nicht wiedererkennt. Aber was erkennt ein
Blick schon, dem es an Schärfe gebricht? Wenn es hochkommt, nicht
viel, und darunter – pah! Das ist schade, es stellt sich die Frage
nach dem Gebrechen selbst, dem Streublick, der dem Denken
vorangeht, als habe er es hinter sich. Er zwinkert, gleichsam im
Blicken, als wolle er sagen: Seht nur, was nachkommt, aber man
bemerkt nichts, nur diesen seltsamen Blick, der einem durch und
durch geht, so sehr ist er mit allem durch. Dieser Blick ist mit
dem rohen Denken ein Bündnis eingegangen, doch er ist nicht mit ihm
›im Bund‹, wie die Leute sagen, das ist, er macht sich nicht
gemein. Er macht sich überhaupt nicht gemein; wenn das ein Fehler
ist, steht er zu ihm. Nur grob darf man den Fehler nicht nennen,
das goutiert der Blick nicht, da wächst die Unnahbarkeit, da karrt
einer Eis in die Wüste. Das rohe Denken ist derweil so wüst nicht,
wie mancher denkt. Es misstraut nur den Köchen. Hat es darin nicht
recht? Leiden nicht alle unter den Köchen? Wer um den heißen Brei
schleicht, ist schon verständigt, er trägt das Mal und will kein
zweites.
GARGANELLI, ITALO LUCIO

Die zu blattlosen Ästen und Hecken zusammengefügten, tänzerisch
beseelten Umrisse Italo Garganellis entstanden zumeist mit großem
Schwung auf den Spiegeln gefrorener Seen, hoch in den Alpen. Hier
tanzte der Meister im Winter seinen ›grafiko al di sotto Alpine‹.
Bei seinem bisher letzten größeren Auftritt entstanden allerdings
zwei Blattdämonen, die den anwesenden
Homomaris in Erstaunen und Schrecken versetzten.
Er sah in ihnen den Anfang einer Theateraufführung unter
abgefallenen deutsch-protestantischen und bekennenden
italienisch-katholischen Hexen zum Zweck der Beschädigung aller
männlichen Köpfe nach Goethe. Garganelli selber war ratlos und
legte seine an den Kufen mit kostbaren Bergkristallen besetzen
Schlittschuhe ab, um siebenTage später auf neu angefertigten
Schlittschuhen, mit seltenen schwarzen Korallen besetzt, von
Homomaris angeschoben, einen Gegenzauber zu tanzen. Über die
Auswirkungen dieser Bewegungen, bei welchen sogar die schwarzen
Korallen fast gänzlich abgenutzt wurden, ist nichts weiter bekannt
geworden.
In Kreisen der Kenner wartet man vorerst ein Urteil Garganellis ab.
Günstiges zeigte sich bisher nicht. Das Bild, das vom Gebirge herab
mit Ferngläsern betrachtet wurde, ergab eine vielleicht noch
schlimmere Hexengestalt, die neben den Spuren, die Garganelli
gezogen hatte, unerklärliche Linien bildete, welche jedoch von
übenden Dilettanten stammen konnten, die ja alle Künste des
Meisters bewundern und immer schon eifrige Nachahmer seiner Linien
waren. Aber niemand, der das Besondere des neueren Hexenwesens
kennt, er sei nun getäuschter Liebhaber, Ehemann oder Rechtsanwalt,
wird mit Vergesslichkeit oder Gnade der Hexen rechnen. Erst ein
älterer Malerplan von mehreren Metern Länge, aus einem Dachstuhl in
ferner Gegend herab gezogen, ergab endlich durch die Darstellung
eines Drachensturms von erbittertem Schwung eine neue Einsicht.
Ausgehend von der alten Erkenntnis, dass Drachen die Hexen hassen,
beschloss Garganelli, das matt gewordene Bild im nächsten Winter
durch Tanz zu erfrischen. Das Ergebnis gilt es dann abzuwarten. -
PM
GATTUNGSWESEN

Dass der Fortschritt so leicht verhöhnt werden kann, liegt auch an
der Sprache: man verlacht ihn gern und fürchtet die Progression.
Wohin geht die Reise? Fort, wohin sonst, nur fort! Da wissen die
Sesshaften, womit sie es zu tun haben, und halten sich heimlich den
Bauch vor Lachen. In zweihundert Jahren sieht man sich wieder. Die
Progression geht ihren stetigen Gang, sie ist das Salz der
Statistik, sie ist das, was man sieht und fühlt, alle
Teuerungsraten fließen am Ende zusammen in einer, der
Gattungsteuerung. So teuer wird sich die Gattung, dass sie die
Unkosten kaum mehr aufbringen kann und hinter sich blickt. Dieses
Gattungswesen, das im Einzelnen das Auge aufschlägt und nach
Statistiken Ausschau hält, die ihm das Gefühl geben zu sein,
progrediert, kein Zweifel, das Dunkel, aus dem es kommt, hat es wie
einen Mantel um sich geschlagen, wie man hört, geht es einer
ungewissen Zukunft entgegen, was einen im Stillen wundert, wo doch
die Gewissheiten auf dem Tisch liegen und darauf warten, dass einer
kommt, der sie durchblättert. Das muss wohl ein anderer sein,
Gattung II oder wie man
ihn nennen mag. Vielleicht ist Gattung das falsche Wort und es geht
nichts. Auch diese Auffassung hat ihre Liebhaber. Zu Beginn des
dritten Jahrtausends, inmitten einer, wie Herr Sloterdjik meint,
zweiten Achsenzeit, an der Schwelle zu einer neuen Menschheit tut
es gut, sich daran zu erinnern, dass schon die alte wenig mehr
darstellt als eine Schwierigkeit – des Denkens, des Empfindens, des
Glaubens, des Weiterkommens, im Grunde des Alphabets.
GAUMENABSCHNEIDER
Das Wort abschneiden kann jeder, aber den Gaumen –! Dazu muss man
wissen, wozu der Mensch seinen Gaumen benötigt,
wirklich benötigt, allzu
viel passiert dieses Organ, darunter Dinge, die niemals passieren dürften, unaussprechliche, und damit sind wir beim Thema. Unter Gaumenabschneidern gilt die Regel,
dass, wer nie um ein Wort verlegen ist, als Sicherheitsrisiko gehandelt wird und eine
Behandlung verdient. Ganz recht: Man muss sich ihre Behandlung
verdienen, sie kommen ungerufen, aber nicht ohne Vorlauf. Der Mensch
denkt, der Gaumenabschneider … lauert darauf, dass er es
ausspricht. Dann lauert er weiter, bis seine Stunde naht. Eigentlich
liegt ihm nichts an dem, was der andere denkt. Er steht auf Wörter,
allein auf Wörter. Wörter sind für ihn, wie für den Beichtvater,
Laien-Bekenntnisse: Was nicht im Beichtspiegel steht, ist ohne
Belang. Die Wortlisten der Gaumenabschneider sind lang, sie quellen aus den Hexenküchen von
Analphabeten, die vorurteilslos ihren Dienst am Wort verrichten, auf
dass ihrer aller Sprache sich rein erhalte. Ja, es ist ihre Sprache,
sie haben sie irgendwann gekapert und entführt. Auch
Gaumenabschneider bekommen sie nicht zu Gesicht, sie wissen gar
nicht, wovon sie reden, und schneiden, wie und wo es ihnen gefällt.
GEBÄRRATTE

Als die Gebärratte hörte, dass sie ihr Soll nicht erfülle und daher versetzt werden sollte, rastete sie aus. »Was soll das heißen? Bin jetzt ich an allem schuld? Gestern die Klimaratte, heute ich. Das ist das Leben. Was für ein Leben? Danach fragt keiner. Ein Rattenleben vielleicht? Dass ich nicht lache. Nebenbei, was habt ihr nicht alles in die Klimaratte hineingesteckt. Bei mir hingegen – Fehlanzeige. Ihr wolltet nicht einmal sehen, dass es mich gibt. Nicht wahrhaben wolltet ihr mich, nicht wahr? Ihr Fehlhaber! Dabei bin ich nur die Relation. Eine klitzekleine Relation. Meinetwegen könnt ihr Nachwuchs bekommen, soviel ihr wollt. Ich bin die Relation. Ihr könnt auch sagen, ich bin eure Zukunft. Bestreitet es ruhig, das bin ich gewöhnt. Ich husche über die Bühne und ihr seid entsetzt. Wo kommt das Vieh her? Jagt das Vieh! So redet ihr, reichlich ungeniert, wie mir scheint, denn ich bin eine Zahl wie ihr selbst. Gleich geboren! Mit Rechten! Mit gleichen Rechten! Mit einem Unterschied: mich könnt ihr recherchieren. Was davon gehört? Ach ihr winkt ab. Das kenne ich, das kenne ich gut. Mich recherchiert man nicht, mich hat man im Blut. Oder im Urin. Oder im Speichel. Ihr Armen im Geiste! Armselige Windmacher, denen bei Wind die Puste ausgeht.«
GEBURTSTAG

Aber wenn es das Leben gilt, wo bleibt dann das Leben? Hält es sich
hinter den Leidgebirgen versteckt und lugt nur ein wenig hervor, um
im geeigneten Augenblick davon zu rennen? Die Menschen lieben doch
das Leben, sie besitzen eins, das sie um jeden Preis bewahren
wollen, sie stehen Schlange an jeder Kasse, die sich vor ihnen
auftut, und zahlen astronomische Summen – wofür? Zweifellos dafür,
leben zu dürfen. Sind sie denn Geiseln, die sich selbst auslösen
müssen? Oder sind sie unter die Wegelagerer gefallen und entledigen
sich nun, um irgend davonzukommen, nach und nach ihrer Barschaft
und ihrer Wertgegenstände? Mitnichten. Sie arbeiten ja, es strömt
ihnen zu, beidseitig, Sex und Geld, das ist wichtig zu wissen, um
nicht zu falschen Schlussfolgerungen zu gelangen. Nein, auslösen
wollen sie sich nicht, eher hineinbohren in etwas, was außer ihnen
niemand sieht. Es sind Maulwürfe, denen der Erdgeruch teuer ist,
und sie bewegen sich, wie der Instinkt es befiehlt. Aber bewegen
sie sich? Das ist die Frage. »Eher weniger«, sagt G. und schneuzt
sich. »Das ist es ja. Die Witterung trägt ihnen etwas zu.
Was sie ihnen zuträgt,
weiß keiner. Was immer der Instinkt ihnen befiehlt, er kann es
nicht richten.« Soll er das? Was ist das für ein Instinkt, der es
nicht richtet? Richtet er sich nicht selbst? Richtet er sich nicht
ununterbrochen? Sind sie nicht genau das: ein tägliches
Standgericht über sich selbst? Wenn sie aufstehen, worüber erheben
sie sich? Sie können nicht liegen bleiben, soviel ist sicher. Die
in den Betten bleiben und künstlich, wie es heißt, versorgt werden
müssen, sie sind im Leben angekommen. Sie haben es hinter sich,
sagen die Leute erleichtert, wenn die Geräte abgeschaltet sind und
die Betten in die Empfangslage zurückrollen. Woher die
Erleichterung? Woher der Neid auf die Toten, wenn alles lebt? Ist
das Leben des Bewusstseins Leben?
GEDÄCHTNIS
Tut dies zu meinem
Gedächtnis – einer muss kommen, der die Stunde ansagt,
vielleicht ein zweiter, ein dritter. Mehr dürfen es nicht werden,
dann ist Schluss. Es dürfen die Jünger kommen, die Streiter, die
Mitstreiter, die Gläubigen, die Ungläubigen und die Spätgeborenen,
die die sich nicht mehr entscheiden können, weil jede Entscheidung
so... so kontaminiert ist, weil jede Menge schlechtes Volk
durchgelaufen ist und man nicht mehr das Gefühl haben kann, sich
starken und reinen Menschen anzuschließen. Das Gedächtnis bewahrt
die Stunde, es bewahrt die Texte und Taten, es bewahrt auch die
Untaten, es bewahrt sie für die, die nicht anders können als zu
tun, was ihnen gesagt, und zu bewundern, wie es gesagt wurde. Den
anderen, den Gedächtnislosen, genügen zwei, drei Fetzen
Vergangenheit, um sich davonzumachen und einer neuen Weltstunde
entgegenzuleben. Wenn sie sich einen Helden erwählen, verkrallen
sie sich in seine Leiche, als müssten sie sie zu neuem Leben
erwecken, während sie doch nur versuchen, den letzten Tropfen Blut
aus ihm zu lecken. Nicht seinetwegen, bewahre, soweit will ihr
Fetischismus nicht gehen. »Hat gesagt«, sagen sie, »hat schon
gesagt!« Sie sagen es im Brustton der Überzeugung, als wollten sie
zu verstehen geben, sie selbst hätten alles schon vor fünfzig
Jahren gesagt, am besten vor ihrer Geburt. Haben sie nicht recht?
Haben nicht alle recht? Im Land der Rechthaber setzt das Gedächtnis
sich leicht ins Unrecht. Es wird schweifend und ungenau, weil es
den Punkt nicht findet, an dem es einstimmen kann. Alle sind
weiter, da will es nicht zurückbleiben und setzt sich lieber ein
schiefes Denkmal. »Sieh doch«, sagen die Leute. »Haben wir’s nicht
gesagt?«
GEDANKENREIBUNG

Es gibt Theoriebezirke, denen man sich nicht nähern kann, ohne die Klingen zu kreuzen, d.h. sie erregen lebhaften Widerspruch an Stellen, von denen man vorher nicht wusste, dass man dort zu Überzeugungen neigt. Es sind auch nicht Überzeugungen, die sich zu Wort melden, sondern Argumente. Aber schaut man genauer hin, so zählt nicht das Argument, sondern die produktive Verfassung, in die man sich unversehens versetzt fühlt. Nein, man sieht sich nicht zum Mit-Denken aufgefordert, sondern zum Gegen-Denken, gelegentlich, wenn die Aufgabe größer erscheint, zum Dagegen-Andenken, einem Bergsteiger vergleichbar, der beim Anblick eines Massivs bereits damit beschäftigt ist, es irgendwann zu bezwingen, ohne dass ein expliziter Vorsatz vonnöten wäre, doch es sind auch kleinere, im Vorbeigehen erzielte Gewinne denkbar. Das Seltsame daran ist, dass die Verfassung nicht vorhanden sein muss, um die Theorie – durch Widerspruch! – sprechend zu machen, sondern durch die Berührung mit Theorie erzeugt wird. Aber vielleicht lässt nicht die Theorie selbst, sondern eine bestimmte Weise der Darstellung den Modus der Hervorbringung und des Hervorbringens sichtbarer werden, als dies im Allgemeinen geschieht. Produktiven Menschen ist es häufig ein Bedürfnis, neben dem Produkt auch, gleichsam im Beipackzettel, die produktive Verfassung zu dokumentieren, die es hervorgebracht hat. Subtiler wirkt es da, wenn das Produkt selbst so beschaffen ist, als setze es sich erst im Gehirn des Rezipienten zusammen – was einerseits immer richtig ist, andererseits eine nicht unerhebliche Unterstützung durch den Duktus des Vortrags erfährt. Wenn es unterschiedliche Weisen der Produktivität gibt, dann gibt es außer Nähe und Distanz auch so etwas wie natürliche Opposition, bei der der andere es einem schlechterdings nicht nur nicht recht machen kann, sondern es auch nicht darf, auf dass der Gedankenreibung kein Ende sei.
GEDENKMINUTE

Die öffentliche Gedenkminute leidet ein wenig darunter, dass sie bereits vom Gedanken an sie konsumiert wird, jedenfalls beinahe, die eine oder andere Restsekunde wird schon noch abfallen. Aber wer weiß, vielleicht reicht der Gedanke ans Gedenken über die Zeit des Gedenkens weit hinaus. Das muss kein Unfall sein, keineswegs. Da niemand weiß, was während der Schweigeminute geschieht, wenn der Vorsatz, sich zu konzentrieren, alle Konzentration beansprucht, um sie (sich) zu verfehlen, bleibt es beim Schweigen und darauf kommt es schlussendlich an. Man ist beruhigt, es getan zu haben und beunruhigt darüber, nichts getan zu haben, stärker vielleicht als darüber, das innere Schweigen durch einen Gedanken verunreinigt zu haben, der nun wirklich nicht dahin gehört, weil er nur der Chauffeur ist, der vor der Tür warten sollte. Alle Gedanken, die das rituelle Gedenken betreffen, sind nur Chauffeursgedanken. So ist das rituelle Gedenken am Ende auch nur eine Chauffeurstätigkeit, bei der jeder sein eigener Fahrgast sein darf. Streichen wir also das dreifache ›nur‹ und ersetzen wir es durch das Wörtchen ›wirklich‹ und alles ist wirklich so, wie es ist.
GEDICHTE
Seid eingedenk der Zeiten, in denen man die Idee, Gedichte in
Büchern abzudrucken, als Notbehelf ansehen wird. Das geringe
Ansehen, das sie heute genießen, hat damit zu tun, dass sie
gedruckt werden. Sie sind
kaum bedrucktes Papier. Bei der
allgemeinen Papierverschwendung richtet sich der Ärger gegen das
schwächste Glied.
GEDULD

Wann, bitte, ist jetzt? Soeben vergangen. Da war doch...? Um das zu
sehen, braucht keiner den Philosophen. Und wann, bitte, ist ein
Ende? Soeben vergangen? Ein vergangenes Ende, das ist so wie ... ein
gegebenes Versprechen, es wurde einem gegeben und jetzt hängt es im
Schrank, man kann es schließlich nicht jeden Tag herausholen und
betrachten. Jeder besitzt so einen Schrank, in dem er die Enden
aufbewahrt. Eines fehlt, die Sammlung wäre komplett in dem Moment,
in dem man es hätte. So sammelt man weiter, als mache die Sammlung
das eine, das noch aussteht, wahrscheinlicher. Vielleicht soll auch
die Fülle gesammelter Enden das Fehlen des einen vergessen machen.
In dem Fall handelte es sich um Plunder. Wie soll ich etwas
vergessen, an das mich alles erinnert? Das ist unmöglich,
jedenfalls nicht wahrscheinlich. Damit stünde man wieder am Anfang.
»Wahrscheinlich schon«, sagt einer, den man fragt, ob er weiß, dass
das Ende kommt, »wahrscheinlich schon«, und er lässt unentschieden,
ob sich die Rede aufs Wissen oder aufs Kommen bezieht. Darin ist er
wenigstens ehrlich, denn angenommen, er sagte »Mit Sicherheit!«,
dann wüsste man, dass sich seine Rede aufs Wissen und Kommen
bezieht und hielte ihn für einen Falschmünzer. Wie kann er so etwas
wissen? Der Fragende, nun, er weiß, er geht davon aus, denn er
wittert eine Trophäe für seine Sammlung. Aber der Gefragte...?
Warum sollte er sich im voraus enterben? Das ausstehende Ende ist
ihm kostbar, er kann warten, die Zeit rinnt ihm durch die Finger,
doch er kann warten, seine Geduld ist unendlich.
GEFOLGSCHAFT
Sie stürmen voran mit wehendem Haar, sie sind, das »Nie wieder«
noch auf den Lippen, in Kriege verwickelt, für die ihnen neben der
Ausrüstung selbst die Wörter fehlen, aber das macht nichts, sie
werden folgen, wie sie immer gefolgt sind, schließlich bilden sie
die wahre Gefolgschaft. Um die Gefolgschaft der Wörter muss einem
nicht bang sein, sie gilt unbedingt und sie enthält alle Kautelen.
Was das bedeutet? Ach nichts. Wörter gibt es wie Sand am Meer,
manch einer lässt sie vor sich ausstreuen und wirft sie mit beiden
Händen in die Menge. Im Karneval schmecken die Wörter süß, danach
entsorgt man sie mit dem Kehrbesen, auch das ist leichter gesagt
als getan. Einer findet sich immer, der redet, wie ihm der Schnabel
gewachsen ist, und da sind sie: die Wörter. Ein loses Maul bedeutet
den Durchbruch; wer in der Sprache lebt, der opfert gern einen
kleinen Finger. »In welcher Welt lebst du eigentlich?«
fragt
Garganelli oft. Er fragt es
gern, denn es interessiert ihn aufrichtig und die
Antworten lassen ihn aufhorchen. Keiner
sagt: »In der oben links« oder »Raum einundvierzig«; alle werden
beredt. Wahre Gefolgschaft zeigt sich im Schweigen, derweil
behauptet die falsche das Feld. Böse Mäuler behaupten, es gäbe nur
falsche – sie haben sie gegen sich. Die Sprache ist eine
Lästergrube, wer in sie hineinfällt, beschmiert sich mit dem Kot
verwunschener Zeiten und wünscht sich mit der Zeit einen sauberen
Abgang.
GEFÜHLSENTRICHTER

Der angebliche Selbsthass der Deutschen: eine Form des Hochmuts, der Überhebung, wie andere vor ihm. Man lebt ›im Land der Verbrecher‹, man überlässt ihnen gern die Verbrechen, nur die Ungeheuerlichkeit konsumiert man selbst: in ihr erkennt sich das mit der Pest geschlagene Volk. Das aber heißt, es treibt mit sich Unzucht: in Gedanken, Worten undsoweiter. Ungeheuer ist viel, geteilt durch wenige, also noch immer viel, das Bewusstsein der Monstrosität wiegt schwer, aber es wiegt die Befriedigung nicht auf, es mit sich herumzutragen. Worin besteht dieses Bewusstsein? Es verdankt sich, wie bekannt, einem Akt der Bewusstmachung, genau betrachtet, einer Folge solcher Akte, d.h. dem Gefühl der Beengung, das durch sie ausgelöst wird. Diese Beengtheit ähnelt der Beklommenheit, mit der einer den Henker erwartet, aber sie gleicht ihr nicht, denn sie erwartet nichts. Sie wollen, dass es vorbeigeht. Aber das soll niemand wissen. Es weiß aber jeder, denn es ist nichts Besonderes. Daher die unaufhörlichen Beteuerungen, sie seien jetzt Menschen vom anderen Stern, Monster an Friedfertigkeit, die gerade erst lernen müssten, Seit’ an Seit’ mit den Freunden die Werte der freien Welt zu verfechten. Sie sind einer Wertegemeinschaft beigetreten und bestehen auf ihrem Beitrag, um das Gefühl, das sie loswerden wollen, in passender Form zu konservieren. Sie entrichten dieses Gefühl, um dabei zu sein, sie fragen überall nach der Kasse, um es in ihr zu versenken.
GEGENKRANKHEIT
Zu jeder Krankheit gehört eine Gegenkrankheit, das ist doch klar. Nur über die Hintergründe streiten sich die Experten. Der Streit der Experten ist schön, besonders der über Krankheiten. Das liegt zum Teil an der Heftigkeit, mit der gestritten wird, zum Teil an den Mitteln, die dabei eingesetzt werden. Der Körper ist kein allgemeines Gut. Jeder hockt auf dem seinen und lauscht misstrauisch in ihn hinein:
Steh auf, altes Kamel, und wandle! Wem der Appell erst fruchtlos verhallt, dem schlägt die Stunde der Wahrheit. Für die Rabiaten, die gleich in die Apotheke laufen oder ihren Arzt konsultieren, besitzt sie den Klang einer geborstenen Glocke. Jemand glaubt einen feinen hohen Ton zu vernehmen und er folgt ihm bedingungslos. Wohin? Nun, in die Gegenkrankheit. Sie ist die Krankheit all derer, die alles richtig machen wollen. Sie schlagen sich auf die Seite der Krankheit und horchen angestrengt in den Nebel, der ihr Körper ist: dort hinten, das mahlende Geräusch, kommt es näher? Nein, es entfernt sich... auch das ein nährendes Element der Unruhe, die ihr ganzes Wesen erfasst hat. Die Unruhe! Kennen Sie sie? In Worte übersetzt, könnte sie lauten: ›Du hast ja so recht, Krankheit! Es tut mir leid, dass ich dich herbitten musste, um zu begreifen, wie es um mich steht. Ich danke dir sehr und möchte dich gar nicht weiter bemühen. Jetzt, da ich endlich Bescheid weiß, komme ich sicher ganz gut alleine zurecht. Ja, ich bin in Sorge um meinen Körper, aber auch ein bisschen um dich, das wolltest du doch erreichen oder? Ich spüre, wie du abnimmst, das bereitet mir Angst, ich fürchte, du hast dich an mir überanstrengt, es bekommt dir nicht gut. Du solltest pausieren, verstehst du? Wir alle brauchen einen Moment der Nachdenklichkeit, in dem wir loslassen lernen, du vor allem, schließlich bist du nicht bei bester Gesundheit und wirst sie, schätze ich, in diesem Leben auch nicht mehr kennenlernen. Folge mir! Sei mein für die Dauer meines Daseins! Ich möchte dich füttern und meinen Freundinnen zeigen. Sie werden deine Kunststückchen zu schätzen wissen, dessen bin ich mir sicher. Wie, das genügt nicht? Was denn noch? Was denn noch!‹
GEGENSTOSS
Etwas verdanken und
an etwas erkranken kommt aus einer Wurzel, man muss für jedes Übel dankbar sein, das einen heimsucht, denn es bleibt, wie immer man es betrachtet, eine Gabe.
Es ergibt sich, sagen die Leute und sie verschweigen dabei das Meiste, sie verschweigen die Heimsuchung, sie verschweigen, wie alles sich fügt, im nachhinein, wie sie meinen, aber darin besteht ja die Überraschung: wie alles hineinpasst in das, was gerade noch mit sich selbst ausgefüllt schien und den Anschein erweckte, als stoße es, so wie es ist, in die Zukunft vor, um sie zu erobern. Stattdessen stößt, was gerade noch im Futur lag, zurück. Zukunft ist Heimsuchung, sie sucht dich dort auf, wo du zuhause bist, und während du darüber nachsinnst, ob dies dein Zuhause noch ist, haust du dich in ihm ein. Jede Zukunft kommt als Erkrankung, die in sich den Keim zur Genesung trägt. Man kann ihn zerstampfen, aber das sagt nichts über die Zukunft aus, nur über die Kräfte, die sie gestalten.
GEGENÜBER

Wer das Gegenüber nicht kennt, lebt wie ein Hausbesitzer, der
niemals durchs Fenster geschaut hat, denn jede Stube medizinisch
durchforscht, beschriftet und instand gesetzt zu haben, bedeutet ja
nicht, von der großen Ferne jenseits des Hauses auch nur das
Geringste zu wissen. Lunge, Herz, Leber, Galle und Milz sind innere
Gegenstände, mag selbst die Psyche als durchforschbares
Kellergewölbe für solche Sachen hinzukommen.
Nur im wahren Gegenüber zeigt sich die Bühne der Dekoration für die
Kunstarbeit eines Hausbesitzers jenseits des ererbten inneren
Mobiliars. Man könnte sagen, ein teurer Spaß, denn alleine die
durchaus existierenden Beispiele unbeschreiblicher Vorbilder müssen
mit einem immerwährenden Aufwand an Zeit, mit einem empfindsamen
Herumlungern vor Heiligtümern in Museen, an Pilgerstätten und
selbst vor Büchern und Bildern bezahlt werden, und wenn es nur
Andachtsbildchen und Weihwasser wären. Denn was sind gewisse
Abteilungen selbst der größten Bibliotheken der Welt wohl anderes
als Schaubuden mit Reiseberichten aus dem Jenseits? So kostet die
Arbeit am farbigen Nebel immerhin leicht das ganze übrige
ordinäre
Leben.
Für das andere, das gebildete oder eingebildete Leben – denn
angeboren ist in der zweiten Natur ja nichts – geht die Zeit mit
unendlichen Aussichten nur so im Fluge dahin. Offen gestanden,
welche andere Literatur als Legenden, Wunder und Heiligkeiten aller
Art könnte den
Geist
eines Künstlers wohl höher beflügeln, etwa die Mathematik? Der
ordinären Seite der Existenz ist das natürlich nicht förderlich,
denn die alten Hüllen der vornehmen Armut haben sich vollständig
aufgelöst, alles ist öffentlich geworden. Es gehört inzwischen eine
höchst private Art von religiöser Technik dazu, den allerdings
unberechenbaren, aber zahlreichen, von den verschiedenen Mächten
des Gegenübers durchaus noch immer gestifteten Brücken und
Hilfsmittel blind zu vertrauen. Ja blind zu nutzen, denn zu den
echten Gebeten und Ritualen gehört der Mut, gegen die Schatten der
alles beherrschende Wirklichkeit standhaft zu bleiben und das
Unbekannte sich selbst zu erfinden und so auch zu nutzen. »Obwohl
es existiert, muss es dennoch erfunden werden«, sagt der große
Pompe funebre.
Allerdings gehören zum großen Gewinn eines solchen Aufbruchs nach
und nach eine magische Menschenkenntnis, ein bezwingender
Obskurantismus zur Täuschung der allgemeinen Gewissheiten und eine
ganz natürlich erscheinende Rhetorik, ja am Ende sogar eine schwer
zu deutende, aber erleuchtende
Angst. Sie ist wahrscheinlich die
Eigenschaft des noch völlig neuen, heute noch nicht verstandenen
wahren Massenmenschen. Dies ist ein neuer Begriff für das, was man
früher Genie genannt hat. Der Menschenwissende ist nicht mehr der
schwebende Besitzer des elfenbeinernen Turms, sondern ein
Erdbewohner, der die Welt als Atmosphäre der Alchimie betrachten
kann. Feuer zu Feuer, Wasser zu Wasser, Menschen zur Luft, Freiheit
über dem Horizont, da wo noch Berge und Waldspitzen letzte feine
Zeichnungen bilden. Damit wird experimentiert.
Dies scheint am Ende sogar der Wunsch jenes fernen Theaters zu
sein, damit wir zur Entschuldigung der kolossalen
Schöpfungsirrtümer des Direktoriums wenigstens mitten zwischen uns
selber die Tiernatur überwinden. Dazu blickt die gesamte Natur
schon lange auf uns. Es ist sogar ziemlich sicher, dass die
Intuitionen und Phantasien, ja manchmal selbst Geld, nicht ganz
ohne Hintergedanken verteilt werden, indem die seltsamen Demiurgen
vermutlich einen unbekannten Obergott fürchten. So streuen sie auch
die Spuren des Schönen, um einzelne Seelen zu fangen, ganz wie in
Platens Gedicht, als kostbare Ahnungen aus und bannen ein solches
Gemüt für immer.
Natürlich erschüttert ein stilles Begreifen die schlichten Gemüter
der Eltern, Freunde und anderer Weltmenschen, wenn sie vom Wesen
solcher unvertilgbaren Schattenspiele etwas erfahren, und so
streift auch sie ein belehrender Hauch wider die allgemeine
Vernunft wie eine Aussaat des Unbegreiflichen und stiftet die
stille Wut in den Schulen des Lebens. Das zählt zu der schlimmen
Notwendigkeit zur Sichtbarmachung des Gegenübers, weil der Obergott
oder das Direktorium die sogenannte Schule des Lebens als Quelle
des Schreckens benutzt, den ahnenden Menschen rechtzeitig ins
Gegenüber und selbst ins Jenseits zu hetzen. Welche Mittel hätten
der Obergott oder das Direktorium denn sonst in dieser verpfuschten
Mechanik der Schöpfung? Was würden denn wir wohl tun, wenn wir der
Obergott wären....? Wer hier überhaupt noch das Wirken einer
menschlichen Vernunft vermutet, kann sich zum Tierreich der
pragmatischen Aufklärung zählen. - PM
GEGENWARTSNÖRGLER

»Lieber Freund! Hangle dich durch den Bücherwald zur Moderne und du hältst sie irgendwann für ein Hirngespinst notorischer Gegenwartsnörgler. Das Element der Kritik überwiegt und sie stimmt, schon in den Hauptpunkten, selten mit sich überein. Was feststeht an der Moderne, ist ihre Unumgänglichkeit, die sich doch wenig von der unterscheidet, die morgens das Aufstehen regelt und später den Gang an den Schreibtisch. Das tägliche Pensum will erfüllt sein und jeden Tag wird ein Stück Gegenwart zu Grabe getragen, nachdem es ›seine Zeit gehabt‹ hat: der letzte Ausdruck verrät viel, er verrät seine Zeit mittels Posen, denn die meisten Posen beziehen sich offenkundig aufs Haben, Gehabt-haben, Haben-werden, Haben-wollen und dergleichen, deshalb heißt es ja auch ›Gehabe‹. Einen Ausdruck wie ›Gehab dich wohl‹ unter solchen Gesichtspunkten zu untersuchen, besäße einen eigenen Reiz, er hilft dabei, das ältere ›Gott bewahre‹ zu vermeiden und darf daher als genuiner Ausdruck einer Moderne gelten, deren unerhörte Kunst
letztlich darin aufgeht, das Unvermeidliche zu vermeiden. Moderne ist Kunstfertigkeit, wusstest du das nicht? – … Kunstfertigkeit, die mit allem fertig wird, indem sie den unvermeidlichen Rest in die Zukunft verschiebt, dorthin, wo alles sich löst, nur eben im Futur.
Wir werden bald soweit sein. Menschen, die diese Steigerungstechnik beherrschen, gehen völlig entlastet zu Werk, sie haben aufgegeben, was sie bedrückt, und es reist ihnen voraus; sollten sie jemals ankommen, woran nicht zu zweifeln ist, dann wären sie spielend imstande, damit umzugehen, und alles, was sie jetzt zu überwältigen droht, erwiese sich als überaus leicht zu handhaben. Gerade deshalb gibt es so wenig moderne Menschen: die meisten sehen, es ist Gehabe, und gehaben sich wohl.«
GEHÄUS

Der Philosoph liest seine Zeitung und verschwindet danach im Gehäus: dort gelten nur Texte von seinesgleichen. Ein Philosoph will Kollege sein oder gar nicht. Das kann er haben, denkt sich das Gros der Zeitgenossen: Damit habe ich nichts am Hut. Da sie keine Hüte tragen, macht es ohnehin keinen Unterschied und seriöse Philosophie weiß das. Sie weiß eine Menge, aber sie kann es nicht teilen. In der Menge wird alles geteilt, bis zum Erbrechen, wenn’s sein muss, und darüber hinaus. Endemisch zum Beispiel ist der mangelnde Respekt vor dem Eigentum, der durch Gesetz und Polizei hergestellt werden muss, also durch den Respekt vor Gesetz und Polizei ersetzt wird. Die Menge, das ist das Reich der Ansteckung: Einer fängt sich etwas und schwupp! haben es die anderen auch. Dieses ›schwupp!‹ – wer hätte es nicht lange bestaunt und sich Theorien zurechtgelegt, wie es zustande kommt? Doch all diese Theorien, offen gesagt, sind nichts wert. Warum? Das einzige Gesetz, unter dem die Menge steht, ist das der Sichtbarkeit: ohne Ansteckung bliebe sie sich ewig verborgen, es gäbe sie gar nicht. Durch Ansteckung tritt sie zutage, durch Ansteckung konstituiert sie sich und ballt sich zur Masse, durch Ansteckung wissen alle, wie man’s macht, durch Ansteckung wälzt sie sich über Kontinente und Zeitalter, durch Ansteckung kommt sie in die Statistik und bringt ihre Statisten an die Macht. Der angesteckte Mensch, der Mensch der Menge, wälzt sich auf seinem Krankenlager und beschließt, sich künftig in Acht zu nehmen: kranke Gedanken, denen keinerlei Wirklichkeit zuwächst. Schon winkt der nächste Hype, die nächste Mission, die nächste Hausse, die nächste Wahl, der nächste ›Maidan‹ und schwupp! –
GEHEIMNIS

Die meisten Leute stellen sich das Geheimnis als Wolke vor. Ich hingegen (»Ach wie gut, dass niemand weiß...«) denke es mir als einen langsamen Fußgänger, schildkrötenartig, mit einem kraftvoll gezeichneten Panzer, damit jeder gleich weiß: darunter verbirgt sich etwas. Mancher kann sich schon denken, was sich darunter verbirgt. Natürlich wünscht jeder den Panzer zu knacken, auch wenn er weiß, dass er das Geheimnis dadurch zerstört. Dann wieder denke ich mir, vielleicht ist diese Vorstellung ganz falsch und das Geheimnis ist der Zenotische Pfeil, der, abgeschossen, sein Ziel erst in ewigen Zeiten erreicht. In diesem Fall wäre es der Träger einer Botschaft (Tod!) und der fortwährende Aufschub, der den Empfänger im Ungewissen lässt. Welch ein Empfänger! Nichts zu wissen und früh zu sterben, dazu braucht es Geistesgaben, die die Natur dem verweigert, der sich ihrer bedient. Doch was heißt schon Natur. Die dritte Vorstellung ist etwas fadenscheinig und befindet sich nicht ganz auf der Höhe der Frage: danach wäre das Geheimnis ein unbedrucktes Buch, also das Buch, das alle Bücher enthält. Nicht schon wieder, gähnt die Belesenheit. Ja, ich weiß, die Einbildungskraft ergänzt und ergänzt, sie kommt an kein Ende mit ihren Ergänzungen, sie hält dieses Buch für das kostbarste und seine Weisheit für unermesslich. Noch etwas? Aber sicher: das unbedruckte Buch, immerhin, es wurde gebunden, es ist ein Buch. Hingegen hat das Geheimnis beschlossen, die Buchförmigkeit zu meiden, es speist jetzt außerhalb. Da sinkt sie hin, die Welt der Bücher: man kann einen Sack um sie schlagen und ein Gewicht daran hängen, das Gewicht der Welt, es kommt nicht in sie hinein, aber es zieht sie in die Tiefe.
GEIST

Die Bewegung des Geistes im Raum berührt die Gedanken, hierin
besteht seine einzig spürbare Wirkung. Einem unsichtbaren Vogel
vergleichbar, vielleicht der Taube des heiligen Geistes, streift
der Geist den Gedanken mit leichten Schwingen. Er macht ihn
seelisch, tierisch oder pflanzlich. Schon der Raum der Gedanken ist
unter diesen Bedingungen unterschiedlich. Denn die Seele des
Menschen gleicht einem grauen Salon, dessen Vorhänge, je nach
ästhetischer Auffassungskraft, Kopfschmerzen erwecken können.
Kopfschmerzen sind ein Zeichen der geistigen Anwesenheit in Nähe
des Seelensalons.
Im Tier lebt der Geist in Adern begrenzt, immer gleichsam in Blut
gebadet, zieht er als Fisch hinauf und hinunter, den Zeigern einer
Uhr aus Muskeln vergleichbar. Die Bedeutung des Blattschusses unter
den Jägern bezieht sich auf diesen Fisch, dessen Wohnung immer
wieder die gesuchte Stelle des Herzens ist.
In den Pflanzen lebt ein feiner Hauch des Novalis, er ist von der
menschlichen Seele zwar nicht wirklich erfassbar, aber doch ein
sympathetischer Hauch zu ihrem höchsten Vergnügen. Die Wurzel der
Romantik nährt sich von diesem Geist der stofflichen
Unberührbarkeit und er macht die Süße ihrer erdachter Blumen aus,
deren es zahllose gibt. In diesem Zusammenhang ist wohl kaum ein
schönerer Satz zu finden als der: »Seht die Lilien auf dem Felde,
sie spinnen nicht und sie weben nicht, doch Salomo, in all seiner
Pracht, war nicht gekleidet wie eine von ihnen.« - PM
GEIST (2)
»Na bitte«, spricht
Garganelli und
streckt die Fühler aus, »Geist ist unberührbar. Solange die
Menschen gegen wilde Tiere kämpfen, den Hirsebrei stampfen, von
Hunger, Krankheit, Seuchen, meinetwegen Nachbarstämmen heimgesucht
werden, solange sie, nach dem gängigen Register, ihrer natürlichen
Umwelt ausgeliefert sind, legen sie großen Wert auf Unterschiede und nennen das, was sie trennt und verbindet, ›Geist‹. Wer mit
Geistern kämpft – oder sich ihrer Freundschaft rühmt –, ist von
anderem Kaliber als einer, der mit den Wölfen heult. Er ist selber
Geist, er ist ›geistigen Wesens‹. Er hat den Unterschied benannt,
der er ist, den er darstellt, den er vertritt. In einer Umwelt, die
vom Geist bestimmt wird, der nun nicht mehr so heißt, sondern
Organisation, Technik, Wissenschaft, kehren sich die Verhältnisse
um und Menschen, die der dauernden Lockung erliegen zu glauben, sie
seien Organisatoren, Techniker, Wissenschaftler, müssen sich mühsam
daran erinnern – oder werden schmerzhaft erinnert –, dass sie
Naturwesen sind und dass ihnen die Wölfe, die Graugänse oder die
Ratten am Ende mehr über sich verraten als das zur zweiten Natur,
zur künstlichen Umwelt gewordene Geistsein. Das ist übrigens eine
Frage der Gewichtung und kein Entweder-Oder. So gerät der Geist
unter die Räder und wird verächtlich. Aber« – Garganelli spuckt in
den Rinnstein – »dieser verdammte Geist hat den Vorteil, offen zu
sein – über alle Begriffe, über alle Verhältnisse, selbst die
ominöse ›Welt‹ hinaus, während die künstliche Umwelt jeden in einem
eisernen Klammergriff hält und ihm nirgends die Idee eines
Durchschlupfs gewährt, des aufrechten Gangs oder wie man das nennen
möchte. Man hat das natürlich gemerkt und die berühmte
›Veränderbarkeit‹ der Verhältnisse als eine Art Antwort in den Raum
gestellt. Da steht sie nun und kommt nicht von der Stelle. Die
Verhältnisse ändern sich unentwegt, leider bleibt, wer sie
verändern möchte, rascher hinter ihnen zurück als er denkt.« »Dann
denkt er zu langsam.« »Er denkt, wie er denkt. Aber gegen das, was
sich ein paar Milliarden Menschen von Tag zu Tag ausdenken, hat er
doch keine Chance.« »Du siehst das zu pessimistisch.« »Siehst du:
so reden sie alle. Und anschließend geht jeder seiner Wege. Das
bisschen Geist...«
GEISTBLASE

»Spar dir den Geist« lautet die Devise derer, die im Ernst die Welt beherrschen oder jenen buckligen Zipfel, auf dem sie am Ende gebettet sein wollen. Was dabei ›Welt‹ heißt, möchte man gerne wissen, man erfährt es spät oder nie. Ähnlich steht es um den Ernst und um die Beherrschung. Nur der gesparte Geist klappert in seiner Büchse, als fielen Geister- und Autogrammstunde ineins: was Autogramm-Liebhaber schon immer vermuteten und -Jäger in vielen Stunden der Pirsch systematisch erkunden. Immerhin kann der gesparte Geist zu ungeheuren Summen anwachsen, die in keiner Büchse mehr Platz finden und als Regen über blühenden Landschaften niedergehen. Die Menschen fangen dann an zu lallen und sich seltsame Dinge zu wünschen, von denen sie nichts mehr wissen, wenn sie zu ihren gewohnten Tätigkeiten zurückgekehrt sind. Bloß ein leises Gefühl der Scham hält sich und der Wunsch, es sich nachzutun, sobald der Zeitplan das zulässt. Dabei hat es sich mit dem Sich-Nachtun, es ist ein eigen Ding und verlangt den Schöpfer oder, wie es im Schwäbischen heißt, das Kreative, das sich bei solchen Gelegenheiten tunlichst bedeckt hält. Da ist es leichter zu warten, bis die nächste Geistblase platzt, um noch etwas abzubekommen: einen blauen Fleck oder eine gebrochene Nase oder ein verbogenes Rückgrat oder einen Gehirnschaden, lauter Dinge, bei denen man sich etwas denken kann, wenn es einmal nichts zu denken gibt und der Westwind braust, als müsse ein Wüstenstaat kirre gemacht werden.
GEISTERBAHN
Wenn ich lese, der und der alte Knochen des Literaturbetriebs lehne es ab, im Internet zu lesen oder gar, wie es vornehm heißt, sich seiner ›zu bedienen‹, denke ich: Gut, dass du dir meine Lektüre ersparst.
GELÄCHTER
Die Wahrheit ist konvulsivisch, sie
bricht heraus, aber was da
herausbricht, formt sich zu keiner artikulierten Rede. Es bleibt
Gelächter, bleibt Ausdruck der Spannung zwischen dem, was so
bestimmt behauptet wird und dem, was im Akt des Behauptens anwesend
ist, aber sich entzieht. Sokrates wird geopfert und er opfert sich
selbst auf dem Altar des Rechts. Das macht ihn zum Begründer einer
Religion, einer Sekte. Das Denken wird geopfert und es opfert sich
selbst auf dem Altar der Gutwilligkeit, das macht aus ihm ein
Instrument des Lebens, also einer
per se unfassbaren Instanz,
deren Objektivierung zu den unfasslichsten Entgleisungen
führt. Sokrates opfert sich, folgt man Platon, ›aus Prinzip‹, für
die gute Sache, die in diesem besonderen Fall gegen die Person
ausschlägt, was nichts oder beinahe nichts bedeutet. So zu reden
heißt, die Leute ein letztes Mal hinters Licht zu führen.
Wenn Aristophanes an Sokrates zum Verfolger wird, dann nicht
um der Sache willen und nicht aus Prinzip, sondern weil es nun
einmal geschehen muss. Der Philosoph in den
Wolken ist aus einem dauerhafteren
Stoff als der sterbliche Mensch, unsterblich das Gelächter,
das hier und da aufbricht und, wenn schon nicht die Verhältnisse,
so doch das feste Meinen zum Tanzen bringt.
GELDFRESSER
Diese Sorte Wesen ist nicht eindeutig zuzuordnen. Seine
unauffälligste Erscheinung ist, gesellschaftlich gesehen, der
gemeine Geldfresser. Im
Gegensatz zu König Minos stirbt er keineswegs den Hungertod. Das
liegt auch daran, dass moderne Währungen bekömmlicher sind als die
Methode, alles in Gold zu verwandeln, die ein erhebliches Problem
für die Beißwerkzeuge dieser Wesen darstellt, von Materialengpässen
einmal abgesehen.
Wie Forscher der Universität Meins nachweisen konnten, handelt es
sich um eine genuine Fortentwicklung des Dagobertismus, einer
Manie, die nach bisherigen Erkenntnissen durch die Lektüre bunter
Hefte in der Kindheit ausgelöst wird und die Befallenen dazu
veranlasst, alles für bare Münze zu nehmen und in ihr zu
baden.
Lange Zeit glaubte man, es handle sich beim Geldfresser um eine
Parallelerscheinung zum Stromfresser. Die Gier dieser Wesen hat
sich in den Jahrzehnten einer immer globaleren Wirtschaftsweise
jedoch verstärkt, so dass sie heute alle vergleichenden
Parameter sprengen und zu
reinen und sogar
wahren Geldfressern mutieren, zumal
der gesellschaftliche Bann, der auf dieser Art der Existenz lag, im
Schwinden begriffen ist und die Spezies sich wachsender mimetischer
Bewunderung erfreut.
An der Universität Rubljanka hat man im Rahmen der weltweiten
Ausschreibung von Exzellenzclustern ein Projekt aufgelegt, das sich
unter anderem der Erforschung der Spezies und ihrer
Lebensbedingungen widmen soll, da sie im dortigen Teil der Welt
extrem zugenommen hat. Eines der Ziele der internationalen
Forschungsgruppe, die sich hier zusammengefunden hat, besteht
darin, den immer noch geleugneten oder unterbewerteten Zusammenhang
zwischen dem Scheinmangel in gewissen Währungen und der
Zunahme der Geldfresserei in Zeiten globalen Börsengeschehens, das
fast ausschließlich mit virtuellen Mitteln operiert,
wissenschaftlich zu untermauern und empirisch zu belegen. Ein Ziel,
das den Notenbanken dieser Welt wie Musik in den Ohren klingen
müsste, könnte man davon ausgehen, das solche dort zu hören wäre.
Allerdings ist zu beobachten, dass die gesellschaftliche
Entwicklung in den Ländern des sogenannten Westens einen anderen
Weg geht. In demselben Maße, wie der Verzehr von
Fast Food den Bratenduft verdrängt,
lässt sich ein Rückgang des Pfennigklangs bei gleichzeitiger
Zunahme der Geldfresserei verzeichnen.
»Der frisst das Geld roh!« – spontane Äußerung einer Freundin nach
der Begegnung mit einem Immobilienmakler, dessen legendäre
Kunstsammlung neben einigen kleineren Objekten mehrere Säcke mit
500-Euro-Scheinen enthält. - AC
GELDSINN

Nichts härter als das Bild, das sich das Geld von der Welt bildet. Der Geldsinn, also der siebte, formt alle Sinne bis zur äußersten Fügsamkeit. Die Wahrnehmung folgt ihrem Herrn auf Schritt und Tritt, an der Schwelle zur letzten Kammer legt sie sich nieder und hält Wacht. Sei versichert: alles, was du für wahr nimmst, es zahlt sich aus. Wo nicht, schwindet die Wahrnehmung, als habe sie nie existiert, im Handumdrehen. Bleibt die entscheidende Frage: Für wen zahlt es sich... aus? Für dich oder für den anderen? Doch Hand aufs Herz: Wo genau liegt der Unterschied? Auf den anderen hast du lange gewartet, das ist wahr. Aber: Wie lange? Gerade so lange, wie dich der Unterschied plagt. So sieht es aus. Nebenbei: Plagt er dich noch oder hebt er dich schon? Da liegt des Pudels Kern. Der andere, erstmal erschienen, wird den Unterschied liquidieren. Zum Glück! Vielleicht. Oder zum Schrecken... Das hängt ganz vom Kontostand ab. Das Mysterium des anderen ist seine Brieftasche. ›Sei barmherzig!‹ Was immer von dir dort hinüberfließt, es fließt, tausendfältig erstattet, zu dir zurück. Der Zins spannt die Erwartungsdimension der Seele, sofern sie den anderen meint, als Zinseszins zeigt sich die Sünde nackt. Im Erstattungszwang, dem, außer dem verjährten, kein Geben entspricht, verdampft die Ressource Sinn. Das geduckte Leben wendet sich anderen Quellen zu, es erfindet Verhältnisse. In den Verhältnissen, die sind, wie sie sind, lässt sich das Unglück treiben. Es hat seine Ablenkung und sie haben Schuld. Schade nur, schade ‒ in jedem Verhältnis lauert der andere, um aufs Neue hervorzubrechen, die Hydra treibt ihre Köpfe. Die Mechanik des anderen bleibt eine harmlose Wissenschaft, solange Menschen sich weigern, die Kraft zu studieren, die in ihr wirkt. Nicht das Geld drückt den Menschen, der Mensch drückt und es kommt: Geld. Oder nichts.
GELTUNG
Den Geigenkasten unter dem Arm, bestreitet man Olympiaden, die
keiner sieht, die keiner kennen will, Olympiaden des Herzens, des
metaphorischen Organs, das überall anwächst, mit größter
Leichtigkeit, ohne Unterlass. Wer uns so sieht, könnte meinen, die
Natur habe uns zu etwas bestimmt, zu irgendeinem abstrusen,
grausamen Zweck, einem Ritual, das wir nicht sehen, nicht riechen,
nicht schmecken, nicht bestimmen können, zu dem wir aber vorgesehen
und offenbar nötig sind. Wir lehnen diese Meinung nicht ab, wir
hören sie an, neigen das Ohr und das Kinn fällt ein wenig herab,
nicht viel, aber gerade genug, um eine kleine Erschlaffung
anzudeuten, denn eigentlich haben wir dergleichen genug gehört und
möchten nun weitermachen. Das Weitermachen wird viel beredet, in
Film und Fernsehen, man zeigt es einander und stimuliert sich so zu
Leistungen, die gestern noch als unvorstellbar galten. Dieses
Gelten ist unsere Spezialität, unser Trick, uns gerade
hier aufzuhalten, wo es just
geschieht, uns in der Zeit zu halten, aus der wir sonst hemmungslos
herausfallen würden, denn welchen Grund sollte es geben, diese
Herzensplackerei fortzusetzen, unterbrochen und ergänzt durch die
Mühsal, Lebensmittel heranzuschaffen, die ohnehin nicht für alle
reichen? Aber was soeben in Geltung ist, glänzt über den Wassern,
und nur die harten klinischen Fälle können sich dem Anblick
entziehen. Hagere Philosophen, die sich mit Geltungsfragen
herumschlagen, behaupten gelegentlich, es käme aufs Begründen an,
doch damit zielen sie weit an der Sache vorbei. Auch Begründungen,
sofern sie denn stichhaltig sind und nicht ihrerseits einfach
gegriffen, müssen in den Bann- und Strahlkreis des Geltens treten,
bevor sie uns etwas sagen – es gibt vieles, das, gesagt, ungesagt
bleibt, weil es denen, die gerade das Sagen haben, nichts sagt. Das
Sagen ist immer gerade, gerade eben, aber vor allem gerade, es ist
eine ebene Straße, die geradewegs in die Zukunft hineinführt. Es
kann aber blitzschnell umschlagen in ein anderes Sagen, das
plötzlich ›an der Zeit‹ ist – ein schöner Euphemismus! – und seine
eigene Vorzeit mitbringt. Dann werden andere Gründe geltend
gemacht, als man sie vorher hörte, die Dinge stellen sich anders
dar und ein Narr ist, wer einen vergangenen Diskurs weiter pflegt.
Statt auf den Wankelmut der Zeitgenossen zu schimpfen, sollte man
ihn als Waffe begreifen, die es ihnen ermöglicht, tapfer die
Gegenwart zu bestehen, vor allem aber als – sagen wir, um etwas zu
sagen,
Epiphanie des
Geltens und damit dessen, was es uns ermöglicht zu sein.
Nicht Institutionen bilden das starre Gehäuse der Gegenwart, aus
dem keiner herausfällt, es sei denn aufgrund eines organischen
Defekts – sie sind schnell ab- und umgebaut, wenn es sein muss –,
sondern die augenblickliche Geltung, von der niemand weiß, wie
lange sie anhält. Woher sie kommt, woraus sie entsteht – Fragen an
den Wind, der, wie ein Mystiker der Zerstörung wusste, stetig aus
der Vergangenheit weht. Man sollte hinzusetzen, dass kein
Vergangenes zählt, wenn es die Zukunft gilt, in der es sich ebenso
zahl- wie zahnlos wiederfindet.
GEMEINSCHAFTSERREGUNG

Der Gedanke, die Nation als Erregungsgemeinschaft zu fassen, hat
Charme, verlangt aber Nachbesserung. Denn wie außer Frage steht,
dass es viele – und vielerlei – Erregungsgemeinschaften gibt, so
muss auch die Art der Erregung sorgfältig differenziert werden. Die
schöne Erregung, die das Bewusstsein der ideell unterfütterten Tat
in denen hervorbringt, die sie nicht ausgeführt, aber begleitet
haben, hat wenig gemein mit der Erregung, die aus Mittäterschaft
erwächst und dort am größten ist, wo es sich um gemeine Verbrechen
handelt. Oder doch? Erregung ist Erregung, wird sich der Denker
gedacht haben, ein Aushilfsdenker vielleicht, denn es ist ein
Aushilfsgedanke, den er da gedacht hat. So gibt es vor, neben und
hinter der Erregungsgemeinschaft die Gemeinschaftserregung – eine
Erregung, in der Gemeinschaft ›fühlbar‹, ›sichtbar‹, kurz, als
vorhanden erfahren wird. Das wäre nicht unbedingt die Nation und
diese nicht unbedingt. Es gehen mehr Menschen kalt an solchen
Gefühlen vorbei, als die auf Sichtbarkeit getrimmten Zeitgenossen
sich klar machen wollen. Gemeinschaftserregung setzt
Erregungsgemeinschaft nicht notwendig voraus. Doch scheinen
Erregungsgemeinschaften zu existieren, die das Thema der Nation
für sich gepachtet haben. Auch in der Art der Erregung finden sich
Unterschiede. In Deutschland zum Beispiel gehören dazu der lebhaft
gefühlte Groll und die Bereitschaft zum Umschlag, das berufsmäßige
Entsetzen und der unterschwellige Trotz. Andere Völker, andere
Erregungen. Wer erregt sich über Europa und wie? Das ist keine
kleine Frage, hier liegt eine Zukunft in Windeln und lässt sich
belächeln. ›Wir sind ein Volk‹? Fassen ließe es sich schon, zu
fassen ist es selten.
GENDERBISS
Der dritte Weltkrieg zu Lebzeiten derer, die jetzt langsam damit beginnen, ›Verantwortung abzugeben‹, der große Krieg der Geschlechter, kennt viele Ansichten, unter anderem die des grau gewordenen Landsers, der, Unruhe in der Stimme, fragt: »Geschlechterkrieg? Und wer soll daran teilgenommen haben? Wer waren denn die Parteien?« Das erinnert an Sätze aus der Generation der Väter, zum Beispiel: »Ich bin mit den Franzosen immer gut zurecht gekommen« oder, vielleicht eine Spur eindrucksvoller: »Der Russe an sich hatte nichts gegen uns.« Kostbare Souvenirs, gern herausgeholt, falls es im näheren Umfeld mit dem historischen Verständnis nicht recht vorangehen wollte. – Und dabei ist dieser Krieg längst nicht beendet, das Beste steht noch bevor. Der richtige Genderbiss wird unter der Haut getragen, Tätowierung hilft – nicht immer, nicht jedem, aber das ist keine neue Erkenntnis.
GENDERPARLAMENT
Weiblichkeit kann man verfügen, zum Beispiel
über die Zahl von Parlamentskandidaturen, die man ihr zuschustert,
doch herbeizaubern kann man sie nicht. Also vertrauen die Mächtigen
darauf, dass sich genügend Frauendarstellerinnen finden, um das
Thema in aller Munde zu halten. Und wirklich erkennt man
Frauendarstellerinnen daran, dass sie immer und überall die Rechte
der Frauen im Munde führen, teils, um denen nach dem Munde zu reden,
denen sie sich, zu Recht oder Unrecht, verpflichtet fühlen, teils,
weil sie sonst nicht wüssten, worüber sie reden sollten. Die
allermeisten Frauen langweilt dieses Gerede, obwohl sie
überhaupt
nichts dagegen haben, dass jemand ihre Rechte verteidigt und mehr
davon fordert. Sie möchten nur gern von etwas anderem reden und
schätzen es nicht, wie sehr die Frauendarstellerinnen die Phantasie
der Männer beschäftigen. Daher legen sie eine auffällige
Genervtheit an den Tag, sobald ihre Vertreter*innen wieder in aller
Munde sind, so als wollten sie sagen: »Spuck’s aus!« Frauen haben
keine Lust darauf, sich bei den Männern vertreten zu lassen, und
unter Frauen möchten sie, offen gesagt, gern noch ein Wörtchen
mitreden. Frauendarstellerinnen hören das selten gern, sie haben
alle Weiblichkeit der Welt in sich aufgesogen und geben sie nicht
mehr her – schon gar nicht an die Hergelaufene dort in dem gelben
Kleid, die so redet, als wüsste sie ganz von allein, was sie von den
Problemen dieser Welt zu halten habe.
GENERATION NULL
Die Nullität in allem, was von der eigenen Generation ausgeht, muss konstatiert werden. Man hat es lange gewusst, weil man die Selektionen sah, denen sich ihre Sprecher verdanken. Der ideologische Rausch der vorausgegangenen Jahrgänge hat über Angst und Abwehr die Auswahl bestimmt, die später das Sagen bekam – eine paradoxe Feststellung, da sie nichts zu sagen hatte und hat. Sie sind wie stumme Fische durch jede Schleuse geschwommen, die man ihnen geöffnet hat, und da treiben sie nun. Man hat ihnen Leitungsfunktionen übertragen und sie ›füllen‹ sie ›aus‹, bis man sie ihnen, überdrüssig der Vorstellung, wieder abnimmt, jedenfalls dort, wo das möglich ist. Das Beste, was man von ihnen sagen kann, ist, dass sie ›in die Jahre kommen‹, und es besteht Hoffnung, dass man sie nicht mehr herauslässt. Dabei fehlte es ihnen an nichts – außer, vielleicht, an Weggenossen, denen zuzuhören sich gelohnt hätte. Die Aufpasser waren stärker.
GENERATIONSFRAGE
Wir haben es ungern existenziell. Das ist eine Generationsfrage, vielleicht Folge einer Frühvergiftung oder eines steckengebliebenen Gelächters. Vermutlich gehört es zu den Kennzeichen einer Generation von Langweilern. Wobei die lange Weile in beide Richtungen geht. Was sie wohl findet? Sind die Gedanken unnütz, sind es die Geräte nicht minder. In diesem ›nicht minder‹ steckt eine Kehrtwendung, der sich keiner entzieht. Die Generation ist eine Hängebrücke zwischen zwei Abgründen. Das freut die Rechner, wenn sie sich in die Netze einklinken. Warum so spöttisch? Das ist schwer zu sagen, solange niemand weiß, worauf der Spott zielt. Wer ist dieser Niemand? Vielleicht die Existenz in Frageform, unwillig, die Frage der Existenz anzuschneiden, solange zu befürchten steht, dass nur Käse heraustropft.
GENESIS, dritte
Dass Genese und Geltung so gern verwechselt werden, hat seinen Grund darin, dass sich nichts so leicht einrichten lässt wie die Genese einer Geltung. Jeder legt hier die Spur seines Interesses. Viele, vor allem die Hurtigeren, legen zusammen und bahnen einem Interesse die Gasse, das weder das ihre ist noch in ihrem läge, falls sie sich die Mühe machten, ein anderes als ihr Fortkommen im Gefilde des Allgemeinen ins Auge zu fassen. Die gefahrloseste Form der Verfolgung ist die Zurückverfolgung, am besten ins paläontologische Zwielicht, wo Zufallsfunde und Überinterpretationen einander allzu willig in die Hände spielen. ›Sprache‹, ›Schrift‹, ›Geschlecht‹, ›Gruppe‹ bilden die dritte Genesis der Gebildeten, die
mit Gott so nichts anfangen können, aber
das Konzept fortschreiben möchten, da im harten Atheismus, wie sich gezeigt hat, etwas zutiefst Unbefriedigendes und Amoralisches liegt. Genesen, das liegt schon im Wort, wollen sie alle. Was geworden ist, das wird schon wieder, man muss ihm nur Zeit lassen. Im Zeitlassenkönnen liegt die erste der Gnaden, der Grund zu allen, die folgen werden, dafür gedenkt man gern der heroischen Toten, die keine Zeit hatten und daher das Ziel knapp verfehlten. Welches Ziel? Nun, das Ziel, das im Werden liegt und deshalb ein wenig Aufschub benötigt, ein wenig nur, aber den unaufhörlich.
GEOPSYCHOSE

Landschafts
angst oder
timor regionum tritt immer
ohne eine deutlich erkennbare Ursache auf. Weder eine auffallende
Hässlichkeit in der Natur, falls es sie überhaupt geben kann, noch
technische Beifügungen von Menschenhand rufen diese
Gemütsverfassung hervor. Aber die einmal erlebten Empfindungen an
solchen Orten, es können auch Stadtteile sein, bleiben selbst nach
Jahrzehnten immer die gleichen. Der ungarische Maler Zoltan Doltai
empfand sie sogar des Nachts bei völliger Dunkelheit, wenn er mit
verbundenen Augen nach einigem Hin und Her von Freunden an solche
Stellen geführt wurde. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass ein
unbekannter Besitzer, besonders wenn er schon tot ist, hier seinen
Herrschaftbereich vor neugierigen oder forschenden Künstlerblicken
zu schützen weiß. So sind solche ästhetischen »Novimente« oder
Geisterhausflecken, wie sie damals Doltai genannt hat,
möglicherweise ausgedehnte unterirdische Matten oder Wurzelwerke,
in denen in vergangenen Zeiten die Geburtsstätten der Alraunen
vermutet wurden. Eine tief gehende Ahnung vom Schatzwesen im
Erdreich muss keineswegs mit verborgenen Dukaten zusammenhängen,
sondern kann auch durch ein lebhaft empfundenes Lichtschattenspiel
und durch Farben im blassen Vorbereich ihres völligen Auftauchens
entstehen. Die rätselhaften ›Vorfarben‹, die
antecolori Vitruvs, die er durch
abgerichtete Eulen aufspüren ließ, mögen hier eine Rolle spielen,
denn Farben, besonders im Zustand ihres Entstehens, können
rauschhafte Empfindungen hervorrufen. Eine Bemerkung des
seinerzeitigen Irrenarztes Gachet lässt darauf schließen, dass van
Gogh die Farbe Gelb als verwirrend (»verwarring«) empfunden hat. -
PM
GEREDE
So manches sich resignativen oder misanthropischen Motiven verdankende
dictionnaire gerät bei diesem Lemma ins Schwatzen. Nicht so das
Alphazet, das sich in vornehmer Zurückhaltung übt und bloß auf die Autoren Deleuze und Guattari verweist, deren Buch
Mille Plateaux wahrscheinlich die ausuferndste Apologie des 20. Jahrhunderts zu diesem Thema enthält – das bösartige Gerede einmal beiseitegelassen, in dem das Jahrhundert, wie alle anderen, sich eher schlagend zeigte.
GERICHTSPSYCHE

Wer immer die Psyche frequentiert, findet etwas. Sie ist der große Stichwortgeber der erwachsen gewordenen Menschheit, die sich nach Kindheit sehnt. Diese Sehnsucht ist ein verwickeltes Ding, um tausend Ecken gebogen, die meisten davon verloren und vergessen im Schlund der Zeit. ›Sehnung‹ sollte man sie nennen, schon um ihre Nähe zur Biegung herauszustreichen. Was heißt schon Nähe? Sie ist an ihr befestigt, am besten an beiden Enden, wer zieht, zielt schon weiter. Wer immer zieht, der biegt jeden Sachverhalt, bis er ihn so hat, wie er ihn braucht. Man merkt das vor Gericht anlässlich jener Prozesse, die das Volk beschäftigen, weil sie wie ein umgekehrtes Fernglas auf die eigenen Verhältnisse gerichtet sind. Jeder sein eigener Richter, aber auch Staatsanwalt, Verteidiger, Zeuge, Sachverständiger, Gutachter, Bösachter, vor allem letzteres. Der Verdacht springt die Wörter an, als lebte er von ihrem Blut, Syntax ist ihm ein Fremdwort, das den Zusammenhang stört. Aber lassen wir den Verdacht, er ist alt und erzeugt ein Gähnen bei denen, die vom Leben mehr erwarten als alte Geschichten. Das Sehnen will keine Geschichten, es will den Auftritt. Dafür erzählt es Ihnen, was immer Sie wollen. Alles erlebt! Alles frei erfunden! Solange der Körper es hergibt, ist jede Geschichte recht, auch das Schweigen, diese beste aller Geschichten. Wer schweigt, kennt die Geschichten und weiß sich darin mit seinem Publikum einig. Das Publikum hat sich über ihm geschlossen und verdaut ihn bei lebendigem Leibe. Was immer noch kommen mag, er hat gelebt, denn er hat alles getan und nicht getan, er ist ein schmutziger Gott. Überlassen wir den Gerichten die Psyche! Dort hat sie es gut.
GERMANEN

»Die Würde der Barbarei ist unantastbar, denn sie vertritt die
letzte natur-chaotische Einfalt jenseits der Bildung.« Die hier
dogmatisierte Bedeutung einer zu jeder Unregelmäßigkeit des Denkens
befähigten Sprache hätte der Kunst zwar viel zu bieten gehabt, aber
die lateinischen Bildungsklötze standen einer solchen Freiheit
durch die Unfähigkeit, sie gebührend zu würdigen oder ihrer gar zu
bedürfen, im Wege. Bei Hölderlin, Kleist und Novalis oder in den
Nachtwachen des
Bonaventura wird das hohe Rätsel dieser abgrundtiefen
Einsamkeit im glücklos verlassenen Volksbesitz der eigenen Barbarei
offenbar. Im
Zarathustra
herrscht noch ein letztes Aufpauken wie bei den germanischen
Weibern, die im Kampf gegen Rom auf die ledernen Wagendächer
geschlagen haben. Nietzsche konnte den alten Gott, weil er ihn fast
als seinen protestantischen Ehemann ansah, nicht loswerden. Er war
kirchlich mit ihm verheiratet.
Sanft hingegen, allenfalls ein wenig spitz erklingt die Stimme
Thusneldas, der Geliebten eines Nachfahren des Varus und jetzigen
Besitzers eines Bordells an der Place de la Victoire in dem weithin
unbekannten ›Urteilswerk
pro
Germanos‹
Hans in
Paris: »Nein mein Freund, die Taten der Barbarei sind
sprachlichen Ursprungs. Die Sprache wurde nie ernsthaft im Spiel
mit den Nachbarn gebraucht, das beweist sogar noch der zweite Teil
des
Faust. Bis in die
Zwanziger Jahre lagen die Bücher bei Cotta herum. ( Leiser:) Ich
will ihnen etwas anvertrauen, es erscheint da in Deutschland soeben
das
Alphazet, ein überaus bewegliches
und befremdliches Werk, das, lieber Freund...................« Hans
versucht ihr hastig zu antworten....................... Hier
fällt der Vorhang. Das erste Stück der neuesten germanischen
Literatur, zu Recht mit geheimem griechischem Titel, denn die
geheime deutsche Bildung athenisiert sich wie zu den Zeiten Roms,
wird vorläufig....................... unterbrochen. - PM
GESCHLECHTERHATZ

Wer die Geschlechter gegeneinander hetzt, zerschlägt das Bild der Welt. »Welches Bild?« fragen die Interessierten. »Ist nicht jedes Bild der Welt wert, dass man es zerschlägt? Ist nicht jedes Bild eine unzulässige Fixierung von etwas Fließendem? Und überhaupt, von welchen Bildern ist hier die Rede? Als wir jung waren, hielt man die Frauen praktisch in Käfigen. Wir haben sie befreit. Ist das keine Tat? Gott, ja. Einer musste es schließlich tun. Wir haben den Feminismus in beide Hände genommen. Was die Arbeiterbewegung versiebt hat, das haben wir gemacht. Das ist unsere Story. Das wird bleiben. Das hat auch mit Sex zu tun. Nein, der Feminismus ist nicht tot, das mag glauben, wer will. Eine Vision wurde Recht und Gesetz. Fiat lux. Das ist Latein. Endlich Sanktionen. Wir werden nicht zulassen, dass die Frauen jemals, sagen wir... wissen Sie… Schon klar. Keiner kehrt in die Geschichte zurück. Ihr gesellschaftlicher Ort – wie sagt man? – ist heute ein anderer. Und morgen? Junge Frau! Morgen mehr als heute. Sie lächeln? Lächeln Sie weiter. Heute sprechen wir über Erfolg ... messbaren Erfolg, wohlgemerkt, nicht über Wohlfühlkurven. Kurven, jawohl. Haben Sie ein Problem? Ich nicht. Die Frauen sind heute ein Wirtschaftsfaktor. Kinder übrigens auch. Das haben wir geschafft. Auch Sex, klar. Warum nicht. Haben Sie damit ein Problem? Also von Ihnen hätte ich das jetzt nicht gedacht. Aber reden wir doch übers Wohlgefühl. Heute finden wir junge, athletische Frauen in allen Berufen, in allen Positionen, und wir? Ach du liebes bisschen. Auch wir, also wir haben gelernt. Wir haben den Kapitalismus gezähmt, zu unserer Zeit, ist das nichts? Nicht der Rede wert. Bitte. Wir haben den Machismo auf die Bretter gepfeffert, Sieg durch K.o. Das ist doch was, oder? Lieber Junge, quatsch keine Oden. Und komm mal vorbei. Kein lautes Wort. Nein, wir sind nicht in die Frauenberufe gegangen. Nicht diese Falle. Sei vorsichtig, Junge. Gleicher Lohn, gleiche Arbeit. Nein, wir sind nicht zu Gebärern geworden. Das nun gerade nicht. Haben Sie ein Problem damit? Ich frage: Haben Sie ein Problem damit? Legen Sie ab, Madame. Kita für alle. Ach was. Erzieherinnen für alle. Geschlechtsneutral, ja. Naja. Ja, wir haben uns aus den Schulen zurückgezogen. Heißt das nicht Platz machen? Nein? Nicht überzeugend? Ja was denn dann? Was soll der Quatsch? Sie kriegen Ihre Quote und wir kriegen Sie ins Bett. Sie legen sichs zurecht und wir legen uns dazu. So läuft das. Solide Abmachung, ziehen wir durch. Ja ja ja. Wir werden nicht zulassen... dazu stehen wir... Apropos zulassen: Sei’s drum. Was ich sagen wollte... Der Kampf geht weiter. Welcher Kampf? Was ich sagen wollte... zuführen, was heißt zuführen... lehnen wir ab. Mädchenhandel? Scheiße, was. Wir, wer sind wir? Gute Frage. Gute Schule, nicht wahr? Wie? Ganz der alte...? Gute Nacht, ja... Habe die Ehre... Was soll...«
GESCHLECHTERKRIEG
Wir haben im Dritten Weltkrieg gelebt und er ist
ongoing, wie unsere amerikanischen Freunde sagen, die gewohnt sind, auf niedrigem Niveau Krieg zu führen. Wir, das sind ein paar Freunde, auch weitere Bekannte, darunter echte Penner, ferner, wenn man die Zeitungen liest, eine Reihe von Leuten auf unterschiedlichen Kontinenten, darunter Harmlose, Spinner, der Rechtschreibung Unkundige, auch Gewiefte, womöglich Bestien, vielleicht gibt es irgendwo Lager, in denen Skelette den Boden pflastern und Ausgemergelte sich die Hand an der Sonne verbrennen. Die Zahlen gehen in die Millionen, zig-, hunderte, was weiß ich. Nein, es scheint nicht vorbei zu sein, nur unser Part ist zu Ende gegangen, wir sind nicht mehr so gefragt und haben die Gelegenheit benützt, uns in die Büsche zu schlagen. Wir können nicht wirklich berichten, worum es in diesem Krieg geht, er geht über alle Grenzen, zu viele Parteien mischen in ihm mit, als dass jemand wissen könnte, worauf es hinausläuft. In solchen Kriegen erneuert sich die Welt, jedenfalls nimmt sie dieses Privileg in Anspruch, es ist aber nur ein Freibrief für Metzeleien. Der Geschlechterkrieg muss durch private Friedensschlüsse beendet werden, also kommt es darauf an, sie zu verhindern oder, wo irgend möglich, zu erschweren. Besser, man verkündet, das Ende der Privatheit sei gekommen, als dass man an dieser Stelle nachgäbe. Überhaupt kann man Ideologen gut an ihrem Hass aufs Private erkennen. Hier steckt ihr pathologischer Pferdefuß: die Hölle für alle braucht immer Nachschub und keiner, der sich voranbringen will, möchte hier zurückstehen.
GESCHLECHTSFESSEL
Dem Emanzipationssexismus ist es gelungen, die vorletzte Fessel des Geschlechts in die Schrift zu verlegen und dort mit Sternchen und Pünktchen und Binnenmajuskeln und Ähnlichem zu fixieren. Ein glänzendes Kettchen mehr, geeignet, das gebundene Geschlecht zu markieren:
Nehmt Rücksicht! Vielmehr: Lasst Vortritt! Gebt Raum! Aber bitte nicht zu sehr, das Geschlecht könnte straucheln und sich verletzen, daran seid ihr schuld. Der korrekte Mann gibt der Frau Halt. Und der unkorrekte? Er gibt Raum, den sie nicht braucht, er nimmt ihr Raum, den sie braucht, er verdoppelt ihre Last durch Abwesenheit und potenziert sie durch Gegenwart. Darauf noch ein Sternchen! Das Sternchen, das gute Sternchen ist das Likörchen derer, die stets in Berufung sind und ihren Beruf fühlen müssen, um ihn leben zu wollen. ›Belebt die Sinne, benebelt den Geist‹: Jedenfalls vertreibt es die Geister, die alles Frenetische wispernd umkreisen. Nicht wirklich, aber was wäre wirklich, solange es wirkt?
GESCHMACKSLEICHE
»Stil und Geschmack, das ist wichtig, das ist verletzt. In der Regel gilt: es gibt eine Gesellschaft, die Geschmacklosigkeiten ahndet. Wie weit kann, wie weit wird die Verrohung gehen?« Daran haben sich viele die Finger wundgeschrieben und alles, was sie zu verbreiten wussten, ist kraftlos geblieben. Ein Ethos ist kein Trend, den man umkehren könnte, und unser Ethos ist lausig. Ja sicher, dergleichen wird einmal beschrieben werden, aber nicht von den Verstrickten … solche Dinge kommen erst sehr spät zur Sprache. Heute gilt die Faustregel, dass der Einzelne sich nur gegen die Gesellschaft retten kann – schon den Zweiten dazu zu finden, fällt schwer und Sicherheit … Sicherheit ist nirgends. Dass die bezahlten Schwätzer der Gesellschaft jetzt ›das Böse‹ in ihr Inventar aufgenommen haben und jedem an die Backe reden, den sie nicht verstehen können und wollen, zeigt, dass sie aufs Ganze gehen. Eigentlich sollte es heute heißen:
Die Gesellschaft ist das Böse, aber das verantwortete Denken scheut davor zurück, es weiß, was ein solcher Satz anrichten kann und will die Kirmes nicht um eine weitere Bude bereichern. So kann es nur heißen: Die Gesellschaft, zum Gott erkoren, führt sich Opfer zu, vielmehr: sie lässt sich Opfer zuführen, denn sie selbst ist wenig mehr als ein Konstrukt, eine Vorgabe aus der Trickkiste von Leuten, denen der Mund nach Macht wässrig ist. In deren Kalkül sind die Frauen, wie einst im Katholizismus (oder bei den
Nazis), das entscheidende Element. Gehen sie von der Stange, bleiben die ›shades of gray‹, die Abgehängten des auf Fortpflanzung programmierten Paarungsbetriebs. Wer ihnen vorgaukelt, ihre Zeit sei gekommen, vor ihnen liege, nach langer Wüstenwanderung, das Land, in dem Milch und Honig fließen, hat sie alle auf der Stange und sorgt dafür, dass ihre Zahl stetig wächst. Wie lange? Die Frage ist nicht so wichtig, solange niemand weiß, wer danach an der Reihe sein wird. Und wenn schon – solange an Kandidaten kein Mangel herrscht, kann der Reigen weitergehen.
GESCHNATTER
Ein Beispiel für die Verheerungen, die das Wort ›Kultur‹ über die
nützlichsten Erfindungen bringt: der Start
der professionellen Schreiber in die Segnungen des
web2, wie sie es nennen,
um anzuzeigen, womit man bereits wieder durch ist. Da hocken sie
wie Weltkrieg-II-Grenadiere in Erdlöchern aus schlechtem Design,
halten ihre Konterfeis hoch und wackeln mit ihnen, auf dass
jemand draufhält –
aber
dalli und ohne Verzug. Sie wissen, dass sie
Kulturschaffende sind, wie es die Katze weiß, die sich
insgeheim doch für die Maus hält. Sie sind es leid, immer ins Leere
zu sprechen, und wünschen Kontakt, egal welchen. Ach, und wie
schnell sind sie desillusioniert. Nichts enttäuscht rascher als ein
Medium. Das wissen die Tischrücker schon länger. Aber niemand hört
ihnen zu, gesellschaftlich gesprochen, dort, wo man spricht, damit
die Lücke nicht spürbar wird. Welche Lücke? Es braucht Ideen, um
ins Leere zu sprechen. Lieber füllt man sie mit Gestalten. Sie
scheint wählerisch zu sein, die Leere. Soeben verließ sie den Raum.
GESCHWÄTZ

Wenn es der Kultur eines Landes gefällt, mit der Dummheit zu
paradieren, weil es zu mehr als Geschwätz nicht reicht, dann ist
das die Lage und die klugen Leute gehen ihrer Wege. Man könnte
natürlich fragen, was für eine Kultur das sei und wer in ihr
das Sagen habe und wem damit gedient sei, solche Fragen könnte man
stellen und beantworten und vergessen, es bliebe sich gleich. Man
kann auch sagen, dass man in einem Land, für dessen Literatur man
sich schämen muss, nicht leben möchte. Wer zwingt einen, sich zu
schämen? Was zwingt einen hinzusehen? Und wer zwingt einen, nicht
auszuwandern? Etwas Besseres als den Tod findest du allemal. So ein
Land ist kaum mehr als ein Durchgangslager für Leute, die darin
nichts zu sagen haben. Irgendein Schwätzer greift sich irgendein
Anliegen, der Markt drückt es ihm auf, das allgegenwärtige
Fernsehen schleift es zurecht, ein kraftstrotzender Konkurrent
liefert die Maßstäbe, das Zeug wird gebraucht, geliefert,
konsumiert, es bleibt Zeug. Jeder weiß, dass es sich um Zeug
handelt, niemand wird darauf zurückkommen, für den
Augenblick taugt es. Daneben liegen die
Themen, schwer, kantig, schartig von früheren, nie zu Ende
gebrachten Arbeiten, altes, verworfenes Zeug, wertlos, unabgeholt.
Sie liegen gut, sie liegen außer der Zeit. Das Land ist sich billig
geworden, na und? Die Leute haben Probleme, das Geld will angelegt
werden und die Renten, hört man, sind nicht sicher, man muss schon
was tun. Die Leute sind schnell durch mit dem, was sich ihnen
anbietet. Die bedeutsamen Dinge darf man nicht anbieten, sie liegen
wie Blei in den Senken des Bewusstseins, sie sind nicht Kultur, sie
sind
kaum merklich.
GESCHWURBEL
Zu den Basiswörtern des digitalen Zeitalters gehört das Wort
›Geschwurbel‹.
Schwirbeln oder
schwurbeln
(meldet das Grimmsche Wörterbuch, das hier zwingend befragt werden
muss): alles eins, geht alles dahin, wo der Bartel den Most holt. Auf
diesem Weg, wer hätte anderes vermutet, begegnet ihm mancherlei,
Zustände vor allem, die der Mensch in der Regel zu vermeiden
trachtet – ›schwindlig im Kopfe werden‹, ›taumeln‹, ›in
Ohnmacht fallen‹, ›sich wirbelnd oder in verwirrter Menge
bewegen‹, ›dummes Zeug durcheinanderreden‹ – ein rechtes
Geschwurbel also, auf dem, wie der Pinienkern auf der Torte,
letztendlich die ultimative Bedeutung thront und misstrauisch
herunter äugt: ›verworrene Menge‹. Die Menge, das weiß jedes
Kind, das seine Märchenbücher studiert hat, ist per definitionem
verworren. Sie wäre sonst keine. Sie wäre Masse, Kampfeinheit oder
Publikum.
Publikum? Ganz recht. Im digitalen Netz entkleidet das
Publikum sich seiner primären Eigenschaft, der Passivität, und
schwadroniert zurück. Da zeigt sich, dass es, im innersten
Wesenskern, Menge geblieben ist, ein ungeordneter Haufen
unterschiedlichster Auffassungsarten, weit entfernt von allem ›reinen
Empfangen‹, wie die Kommunion es dem Christenmenschen abverlangt.
Warum ist das wichtig? Wenn es nur wichtig wäre! Nein, es ist viel
mehr, es ist … unfassbar, vor allem unfassbar bedeutungsvoll, da
dem Menschen der Menge nichts angelegener ist als die Denunziation
seiner Mitmenschen als … als … sagen Sie’s ruhig, jawohl, als:
verwirrte Menge.
Bravo. Hier, gerade an dieser Stelle, kommt
das moderne Geschwurbel ins Spiel:
Was schreiben Sie da?
Geschwurbel! – Wem sich der Kopf dreht, der dreht zurück:
Geschwurbel! Mehr Zeichen als Wort bedeutet es: ›Ich steige aus.‹
Warum? Fährt jemand Karussell? Wie konnte das nur passieren? Wie kam
er hinein? Wollte er hinein? Nein? Es ergab sich so? Nun – ach nun! –, es kann schon vorkommen, dass einer sich in der Haustür verirrt
und erst im vierten Stock bemerkt, dass hier nicht Erna Hasenbrecht
zu Hause ist, sondern Egon Raffzahn der Ältere, der mit ihm noch
eine Rechnung offen hat und dem er um keinen Preis hier und jetzt
begegnen möchte. Oder jemand wandelt im Dunkeln am Ufer der Spree
und plötzlich – geht ihm ein Licht auf. Das sind schon verstörende
Momente.
Verstörend ist auch die, wie soll man es sagen,
Patzigkeit,
die das Wort enthält. Man kann sich gar nicht vorstellen, dass es
auf milde oder einfach freundliche Weise gesagt werden könnte: »Ein
schönes Geschwurbel lassen Sie da ab!« Nein, diese Rede trieft von
Hohn, noch dazu der mühsamen Sorte, sie will verletzen und weiß
nicht wie. Sie hat den Kontakt zu dem, worüber sie sich ergehen
möchte, eingestellt und wirft … was wirft sie denn? Was würfe sie
denn? Schon diese Frage treibt ihr die Puterröte ins Antlitz, das
›würfe‹ überfordert sie
total, sie vermag sich nicht
fassen bei soviel elitärem Ausdruck, sie will »Schwein« brüllen
und bellt »Geschwurbel«, aber mit eingekniffenem Schwanz. Denn bei
alledem ist sie gebremst. Das Gebremstsein gehört zum Geschwurbel
wie die Kehle zur Nachtigall. So erhebt sich die Frage, was eine
stolze Rede dermaßen zu bremsen vermag, dass sie mit einem gebellten
Scheinwort aussteigt – denn ›Geschwurbel‹ gehört in die Klasse
der Scheinwörter, bei denen der Verstand sein Lichtlein ausknipst
und sich zu Bett begibt, um einmal durchzuschlafen –, es ist ihr
›Adieu‹, sie will von nichts mehr wissen, sie will diese
Überforderung nicht weiter hinnehmen.
Am besten stellt man sich die sozialen Netze wie eine weite flache
Landschaft vor, in der nur einstöckige Bauten sich aneinander
reihen. Mancher, der hier zu Fuß unterwegs ist, kann nicht anders
als in jeden Hauseingang zu treten und seine Duftmarke zu
hinterlassen, sobald er merkt, dass dieser Ort nicht für ihn
bestimmt war. Er ist ein entfernter Nachfahre des Flaneurs, auf den
die Literaten einer vergangenen Zeit so große Stücke hielten, die
heutigen haben ihn am Hals. Gern wären sie ihn los, aber so einfach
läuft das nicht. Was schade ist, denn gerade
seine Welt ist
einfach. Ihr Vorzug: sie geht nicht weg.
GESELLSCHAFT
»Was für eine Gesellschaft!« Im Wort ›Gesellschaft‹ steckt das
Pejorative, das nicht weggeht. Die
gute Gesellschaft, die
feine Gesellschaft, das sind
Unterscheidungen, die den Makel der Trennung auf der Stirn tragen.
Aber auch die Gesamtgesellschaft ist nicht so unverdächtig, wie sie
erscheint. Dass sie an das ›Gesamtkunstwerk‹ seligen Angedenkens
erinnert, mag man ihr noch durchgehen lassen. Doch das Totalisieren
an sich ist ohne eine Tendenz nicht zu haben; die Begriffe sind
nicht so unschuldig, wie sie den anblicken, der sich nicht
vorsieht. Auch die Gesamtgesellschaft schließt aus: dass sie es
ablehnt, den Rest zu benennen, verheißt nichts Gutes. Kurioserweise
entstammt der Begriff dem Repertoire der Kritischen Theorie, die
sich selbst einem Rest zuzählte, der – wie man hoffte – nicht
weggeht. Zum Wir-Begriff wurde die Gesamtgesellschaft in dem Maß,
in dem die kritisch Bewegten sich in ihrer Mitte einzurichten
verstanden. Demnach zählt sie unter die eher komischen Exuberanzen
des Mit-der-Zeit-Gehens. Und wirklich hellen sich die Mienen der
Menschen auf, wenn der Ausdruck fällt – sie lassen ihn zwischen
sich durchfallen und sehen ihm nach bis auf ihre blankpolierten
Schuhspitzen, dann heben sie leise den Fuß und man hört es
knirschen. Aber das nebenbei. Im Grunde hat niemand ein solches
Wortungetüm nötig, das einfache ›Gesellschaft‹ genügt, und jeder,
der mit feineren Sinnen geschlagen ist, riecht den Braten. Wer sich
in Gesellschaft begibt, setzt die Freiheit, sich aus ihr zu
entfernen, voraus, er bedankt sich sehr, wenn man ihm bedeutet,
dass er außerhalb ihrer nichts bedeutet und dass er dort niemals
ankommen wird, so sehr er sich auch anstrengt und ›isoliert‹.
Dieses Wort gibt ihm zu denken. Isolation – was ist das? Eine
gesellschaftliche Verrichtung, eine Strafe, ein verhängter
Ausschluss und ein bekundeter Unwille, den sich aus eigenem Antrieb
Entfernenden zuzulassen. Gesellschaft ist ein Distanzbegriff; eine
Gesellschaft, die auf sich hält, thematisiert sich nicht als
›Gesellschaft‹, sie begreift sich als Raum, in dem man sich
aufhält – auf Zeit, wie in allen Räumen, die sich im
Leben öffnen. In dieser Hinsicht
bezeugt eine Prägung wie ›Weltgesellschaft‹ keinen Begriff, sondern
das Grauen schlechthin. Alle empfinden es, alle gehen darüber
hinweg, so stark ist der gesellschaftliche Sog, der den Einzelnen
mindert und das stärkt, was keiner will und am Ende keinen
befriedigt.
GESINNUNGSSCHLAFMÜTZE
Mersmannsche Kappe für den Hausgebrauch, mit Circumcisio, ohne
Brandmal, leicht vergilbt. Man kann sie gelegentlich ersteigern,
aber im Netz stehen genaue Anweisungen, nach denen es leicht
möglich sein sollte, sich eine neu zu verfertigen.
Angst davor, dass es dieselbe Kappe irgendwo ein
zweites Mal gibt, muss keiner haben, die Bastelanleitung ist ebenso
locker gefasst, wie die Kappe anliegen sollte. Wer sich ihrer
bedient, will nicht als Parteigänger Beachtung finden, sondern als
Zeitgenosse. »Wer seine Zeit genießt, ist ihr Genoss, wer das nicht
weiß, fliegt in die Goss.« Solche derben Sprüche findet man überall
dort, wo man darauf gefasst sein sollte, mitten im Gewühl einer
Gesinnungsschlafmütze zu begegnen. Viele ihrer Träger sind
organisiert, manche darunter im Zeitlerorden, dem Orden der
unvermittelten Abbrüche und der gestreckten Lebensläufe. ›Wir haben
Urlaub‹ steht in den Unterlagen, die man zugeschickt erhält, wenn
man um Aufnahme bittet, womöglich vom Pförtner, der als einziger
noch die Stellung hält. Die Zeitler hält es wenig im Lande, sie
sind ›unterwegs‹. Wohin? Eigentlich reisen sie der Sonne entgegen,
sie stecken voller Begegnungen, von denen die Haut hier und da
Zeugnis ablegt. Wenigstens sie, immerhin ist sie das größte Organ
und kann sich sehen lassen.
GESPENSTERMALER

Die Gestalt einer negativen Ewigkeit besteht aus der uns umgebenden Natur. Sie zu
bezweifeln, zu erneuern und zu durchstreifen ist die Aufgabe der Gespenstermaler. Seit alters besteht das Missverständnis des Naturalismus darin, die natürliche Außenseite der Dinge, selbst wenn sie ununterbrochen Erweiterungen erfährt, bereits für Teile eines Ganzen zu nehmen.
Darin besteht der Irrtum des sogenannten gesunden Blicks, der bloß am sinnlichen Mantel der Maja hängen bleibt. Sehlichte Täuschung der Nerven ist überhaupt das Prinzip der natürlichen Ewigkeit, sie füttert den Menschen, gleich einem Tier ohne Instinkt, mit den Luftblasen ungemalter Prinzipien, seit es über das plötzliche Einfahren der göttlichen Seele instinktlose Zweifel gibt. Aus diesen Gründen werden die Gespenstermaler unseren vernachlässigten Geistesaugen immer wichtiger, nicht nur im Traum.
Nichts gegen die Vermutung, der Mensch sei tatsächlich ein von Dämonen gequältes Tier, aber es sind dann immerhin Dämonen, die ihn heimsuchen und nicht die bilderlos aus sich selber wütenden Fehler der Krankheiten.
Solange die Ärzte sich nicht gelegentlich mit den neuen Gespenstermalern vereinigen können, um Krankheitsbilder auf riesige Deckengemälde zu malen, schwebt das Verhängnis der Bildlosigkeit über unseren einsam schlafenden Köpfen, die jenseits der Träume bloß mit Geschwätz und Zahlen gefüttert werden.
Immer wieder die Spritzen beiseite legend, sehe ich die malenden Ärzte und Künstler eines Tages auf hohen Gerüsten nebeneinander die neuen Gemälde dämonisch umwölkter Menschen prachtvoll ins Blau der Kuppelgewölbe malen. Auch die Organe sind endlich ornamentale Schleifen kühner Gewänder, so außen wie innen. - PM
GESTATTEN
a) Im Paradies der Billigen haben die Teuren Ausgang. Nur die Teuerste zieht ihre Kreise, als ginge sie das Ganze nichts an. Vielleicht hat sie recht und es ist nur ein böser Traum.
b) Der Allerwerteste greift sich den Schritt und bestreitet den Vorgang. Ein teurer Standpunkt: hier steht keiner, der vorher nicht fiel. Oder auffiel, was fallentechnisch die Sache erleichtert, aber kein gutes Echo hervorruft.
c) Wer auffällt, ist schon gefallen. Das Auffallen beschreibt eine Kurve, die steil gen Himmel strebt, um sich dem Schoß der Erde rapide zu nähern und mit ihm zu verschmelzen.
d) Das Abgreifen, eine egalitäre Tätigkeit: fällt auf, wenn der Griff schmerzt. Nicht was, sondern wo jemand abgreift, macht den Unterschied. Eine Sache im Griff haben heißt, auseinander zu reißen, was umso stärker zusammenwirkt.
e) Die ›Lust, niemandes Lust zu sein‹, ist ein altes Motiv und eines der stärksten. Das wissen Ermittler aller Couleurs, sie haben mit ihr manches Kind gezeugt und fürchten noch immer, sie müssten für die Folgen aufkommen.
f) Wir haben die Lust befreit und nun befreit sie sich. Das steht, als Kainszeichen, an den Türen der Erlesenen, die keine Lust haben, Opfer zu spielen.
g) Das Land aller Möglichkeiten ist das Land, in dem die Lust frei hat und jeder für sie haftet. Die Menschen leben hinter Sicherheitsanlagen und halten die Gewehre bereit.
h) Allem, was Recht ist, schlägt seine Stunde.
i) Simultan ist das alles, dass einem, erschüttert, das Kreuz bricht.
GEWISSEN
Eine Lehrerin betrügt den Mann, der sie vergöttert, mit dem Säufer,
der sie gnadenlos in den Dreck zieht. Ein Namenloser sprengt sich
täglich in Gedanken mit dem Präsidenten seines Landes in die Luft,
um das Schlimmste zu verhindern. Der Kommandant eines mit
Atomraketen bestückten U-Boots, den Befehl, es zu tun, auf dem
Bildschirm, lässt sein Boot an einem Riff zerschellen. Die
pummelige Kunststudentin, vertraut mit den Kniffen der Borgias,
liest Vergewaltigungsphantasien in den Augen ihres
Straßenbahnnachbarn und stößt ihm eine präparierte Nadel ins Herz.
Ein Spieler erhöht den Einsatz und begeht Selbstmord. Seine Frau
gewinnt. Spielen Sie mit, wägen Sie mit, urteilen Sie mit! Das
vertreibt Zeit und macht ein gutes Gewissen. Vor allem: Sie sind
dabei. Jedenfalls bis auf weiteres.
GEWITZTHEIT
Wer ab und zu denkt, findet leicht, ein abgetaner Gedanke besitze die Kraft nicht mehr, sich zu behaupten – er beanspruche keine Geltung. Weit gefehlt. Was soll ein abgetaner Gedanke anderes beanspruchen als eben Geltung? Er hat frei, er hat Zeit, die Köpfe der Leute zu erobern, während der Gedanke, an dem noch gearbeitet wird, vor Ungeduld mit den Hufen scharrt. Leicht möglich, dass ein Jahrhundert die Obsessionen des vergangenen erbt, um sie zu realisieren – als wären sie das Neue, die neue Zeit, der neue Geist über den Wassern einer alten Gewitztheit. Die alte Gewitztheit kennt die Woge, die da heranrollt, sie gehört ganz zu ihr, aber als Oberfläche. Die tiefen Massen, die anders ziehen, halten sich anders bedeckt. Darin besteht ja das Neue.
GEWUSST WIE

Die Dichotomie von Glauben und Wissen beherrscht den Alltag, so dass selbst, wer glaubt, sich auf der sicheren Seite wähnt. Er weiß etwas, was die anderen nicht wissen, denn er glaubt und er hat die Wirkungen des Glaubens an sich erfahren. Er weiß also, was Glauben ist – nicht irgendeiner, sondern seiner, der richtige. Einen ›bloßen Glauben‹ lehnt auch er ab, das wäre Aberglaube und Vorurteil, kulturell gewachsen, aber durch Aufklärung und Wissenschaft durchschaubar und damit widerlegbar geworden. Da liegt der Hase im Pfeffer: der ›bloße Glaube‹ ist im Prinzip widerlegbar, auch wenn im Moment die Mittel dazu fehlen. Er ist schon überwunden, weil er als überwunden gilt. Was wäre das Wissen, wäre es nicht gerade das: Überwindung des bloßen Glaubens? Der reflektierte Glaube hat das Wissen in sich aufgenommen, er ist über den bloßen Glauben hinaus, er ist ein Exzess. Dieser Gläubige weiß um seine Situation, er hat sie lange erwogen und durchlebt und das hat ihn stark gemacht: stark wofür? Für das Besondere, das er repräsentiert. Unter der Ägide des Wissens zu glauben ist etwas Besonderes, eine Auszeichnung, ein Konzept, das Überlegenheit verleiht. Was wäre ich ohne meinen Glauben? Nicht viel. Was wüsste ich ohne meinen Glauben? Nichts Besonderes. Wo wäre ich ohne meinen Glauben? Auf jeden Fall weit dahinten, mit Nässe, Dunkelheit und Chancenlosigkeit kämpfend, abgeschlagen, eine armselige Existenz. So wie ich bin, bin ich reich.
GIMPELFÄNGER

sind besser. Sie sagen: »Unsere Jungs sind besser« oder »Frauen
sind besser« oder »Marmelade ist besser« und schon rennt die
Marmelade, den Auftrag zu erfüllen, der tief in ihrem Inneren
tickt: besser zu sein, besser als die anderen, besser als sie
selbst, besser als das Weltall, das, wie der Mond, ein faul’ Stück
Holz ist, vom Ich überglänzt seit altersher. Die Gimpelfänger
bleiben im toten Winkel, sie überblicken die Materie und halten die
Fäden in Händen, die selber Fäden gleichen. »Ich stehe mit allem in
Verbindung«, kann so einer sagen, sein Bauchansatz rundet sich
leicht, er ist es zufrieden. Gimpelfänger haben es leicht, sie sind
das Salz der Erde, die sich ihnen entgegenkrümmt, so sehr ist sie
aufs Lecken erpicht. Aber lassen wir die Erde Erde sein und halten
uns an die Fakten. Fakt ist, dass, wer einen Gimpel gefangen hat,
ihn auch wieder loswerden muss. Das klingt einfacher, als es sich
anlässt. Die Preise für Gimpel fallen, seit Mutter Natur
durchblicken lässt, in welcher Fülle sie sie bereithält – eine
Ressource, die nie versiegt. Was ein Gimpel wert ist, weiß keiner
so recht, es sei denn, er braucht gerade einen, um mit dem Fänger
zu rechten. Die Feinde der Fänger sind die wahren Freunde der
Gimpel. Sie tun ihnen nichts, auch wenn gerade das immer wieder
behauptet wird. Manchmal empfinden sie sogar Lust dabei, ihnen auf
die Finger zu sehen. Diese Lust vergraben sie tief, da sie
fürchten, dass man sie denunziert.
GLAUBE

Dass mehr geglaubt als gewusst wird, ist kaum zu leugnen. Einmal,
weil die entrückte Historie wie die entrückte Hoffnung nur vom
Glauben gerufen werden können, sodann, weil überhaupt die innere
Art der Unendlichkeit nie mit dem Anteil des Gewussten zu füllen
ist. Das Gewusste schwebt immer daneben und nur das Geglaubte ist
dicht bei uns selber.
Es bleibt jedem überlassen, sich innerlich so zu verkürzen, dass er
die Menge des Geglaubten nicht fühlt und die Menge des Erhofften
nicht ahnt, aber sie spielen um uns herum und schneiden Gesichter,
die niemand vermutet. Nicht der Glaube, von dem abfällig gesagt
wird, er sei eine schwache Hilfe gegen die
Angst vor den
Realitäten, sondern das ohnmächtige
Wissen in der Realität verdient den dunklen Titel des
Selbstbetrugs, denn Realitäten werden nicht anders geglaubt als
mittels eines zweiten Glaubens, den an
Tatsachen, dem ein dritter Glaube an
die vermeintliche
Wirklichkeit zur Hilfe kommen muss.
Ich glaube, es wird alles zusammen geglaubt und man gelangt so
rasch auf das Gebiet der heiligen Dreifaltigkeit.
Wissen ist keine Macht zur technischen Einsicht in Realitäten,
sondern Betäubung der Hoffnung auf unbekannte Fernen. Denn
alle
Angst hofft auf ferne
Erlösung, die kein Wissen erlangen wird. Der richtige Racker des
Agnostizismus ist ein Selbstmörder mit kräftigen Armen. Er stürzt
die Götzen der Visionen, über die nur der Einzelne verfügt, mit der
Wissensaxt der Kollektive und gerät wie ein ungeschickter
Holzfäller unter sich selbst. Das konnte dem heiligen Bonifazius
nicht passieren. Er glaubte nur einmal, die Germanen hingegen
mehrmals. Allerdings ist es gut, sich der Gestalt eines Gottes, was
dessen Wirkung betrifft, zweimal zu nähern. Einmal unter dem Aspekt
seiner Allgegenwärtigkeit, der ihn für den einzelnen Menschen
unerreichbar macht – denn für alle bedeutet für niemanden – oder
als Bruder des eigenen
Ich, als eine Innenschöpfung der
Seele. Wer an die Seele in Hinsicht der persönlichen
Gottesbezogenheit nicht glauben kann, ist genauso ein Racker mit
kräftigen Armen – einer, der sich die eigenen Beine abhaut. Affe
kann er nicht mehr werden und Mensch will er nicht sein. - PM
GLAUBENSBEDÜRFNIS
Ist das Glauben zum Bedürfnis geworden, dann
stört das Unwahrscheinliche ebenso wenig wie das Sinnwidrige. Im
Gegenteil: ein lebhafter Glaube bedarf der Beunruhigung, manche
sagen, des Absurden, um sich zu erhalten und nicht in der
Gleichgültigkeit des wirklich und scheinbar ›Gewussten‹ zu versinken.
Nichts versetzt den Menschen so in Unruhe wie der Gedanke: »Und das
soll ich jetzt glauben?« Wer sich vom eigenen Glauben nicht hin und
wieder verschaukelt vorkommt, hat nie in den Spiegel geblickt,
geschweige denn in den Abgrund. Unter den religiösen Vorstellungen
steht die des Abgrunds an erster Stelle. Es muss einem die Füße
wegziehen, wenn man glauben soll, es muss einem die Füße weggezogen
haben, bevor man die Schwingen des Geistes spürt und die Gewissheit
sich einstellt:
Und sie tragen doch! Wohin? Frage nicht,
grüble! Vielmehr: Grüble nicht, glaube! Glauben, solange die Füße
nicht den Boden verlassen haben, ist nichts weiter als Rechthaberei
auf falschem Grund.
GLAUBWÜRDEN
Hochwürden, vom hohen Ross heruntergenötigt, bemüht sich neuerdings um den Titel
›Glaubwürden‹, doch er stößt auf Widerstände, wo er sie nicht
vermutet hätte. Hochwürden glaubte, genügend
Glaubwürdigkeitskapital in Reserve zu haben, um einen Neuanfang
wagen zu können. Aber etwas stockt. »Kommen Sie voran?«, fragen
ihn seine Glaubens-Mitstreiter, die sich Gutes davon erhoffen, sein
Auge blinkt, aber matt. Wo soll das hinführen? Mittlerweile fährt die
Konkurrenz, der es nicht an Märtyrern mangelt, Erfolge ein, die ihre
Gegner das Fürchten lehren, das Glaubensgeschäft blüht wie seit
mehreren
saecula nicht mehr, bloß Hochwürden bleibt außen
vor. So ungerecht ist die Welt. Nein, es sind nicht nur verführte Knaben,
die gegen ihn zeugen, es ist auch der Widerwille gegen die
erfolgreiche Konkurrenz, der sich in den Gemütern der Ängstlichen
zum Schlachtruf ›Keine Religion!‹ verdichtet – ›Nur das nicht.‹
Denken Sie sich, Hochwürden ist zum Bauernopfer geworden – in
einer Schlacht, an der er nie im Traum teilnehmen wollte, selbst nicht
als Bauer!
GLEICHHEITSDSCHUNGEL

G. spricht: Inzwischen sollte man aufhören, das, was seit fünfzig Jahren den Frauen passiert, pauschal Befreiung zu nennen. Zweckmäßiger wäre es, man kehrte zu einem Ausdruck der frühen Jahre zurück: reden wir von Vergesellschaftung. Frauen sind, in einem anderen Sinn als Männer, Gesellschaftswesen, sie bestehen auf Gesellschaft und die Männer finden ihren Vorteil dabei. Die Biologie mischt mit und sorgt dafür, dass alle von Zeit zu Zeit wieder nach Hause gehen. Nun, Vergesellschaftung zielt darauf, diesen ›Rest‹ zu vernichten und die Beute den großen Akteuren in die Hände zu spielen – von der Wirtschaft über die Medizin bis zur Psychiatrie und ihren leichteren therapeutischen Schwestern. Dazu bedarf es des Gesetzgebers und des Schwarms von Behörden, die umsetzen, was an der Zeit ist. Sie spielen den entscheidenden Part. Der formalen Gleichstellung der Geschlechter folgt, Jahrzehnt um Jahrzehnt, ihre informelle Ungleichstellung durch ›gezielte‹ Nachbesserung des Erreichten: ein Fass ohne Boden, eine Baustelle ohne Ende, eine nach oben offene Aufgabe, ein Beben, das niemals zur Ruhe kommt. Nichts davon bringt die Geschlechter der Gleichheit näher. Man kann auch nicht sagen, dass es sie voneinander entfernt. Nur die reale Ungleichheit setzt sich durch, auf jeder Stufe, auf jedem ›Stand‹, mit allen verfügbaren Mitteln, den neuesten wie den ältesten. Hier liegt das Ärgernis und mancher reißt sich lieber das Auge aus, als dass er zu dem stünde, was er sieht. Fazit: Wer den ἄνθρωπος abschafft oder seine Abschaffung simuliert oder den
virtualiter abgeschafften anhand simulierter oder simulierender Forschungsergebnisse im Wochentakt ad absurdum führt, riskiert... seine laufende Wiedergeburt, mit allen Folgen und Folgefolgen, den rüden wie den subtilen. Was wären wir ohne die Folgen!
Wer wären wir ohne die Folgen! Im besten Fall bekommen die Verfolgungsbehörden zu tun, im schlechtesten sind selbst ihnen die Hände gebunden und irgendwo tickt jemand aus. »Währenddessen nehmen die Menschen sich, was ihnen brauchbar erscheint. Das Mobiltelefon zum Beispiel und die Religion sind die gegenwärtigen Mittel der Frauen, sich im Dschungel der Gleichheiten zu bewegen, ohne sich ihnen auszuliefern. Entsprechend argwöhnisch werden sie beäugt.« Es gibt andere, subtilere, vielleicht mächtigere, aber zu diesen hier haben alle Zugang, sie sind barrierefrei: ›basic‹.
GLEICHMUT
»Gleicher Mut für gleiches Entgelt!« Wer nicht einsieht, dass diese
Forderung nur gerecht ist, der hat das Wesen der Gerechtigkeit nicht
verstanden, für den bleibt Unwesen, was die Parteien treiben, vor
allem die Partei der Gerechtigkeit, die für sich recht zu haben
beansprucht, weil alles andere ungerecht wäre.
Habe Mut! Das
Zitat geht noch weiter, doch die Partei kennt es nicht, sie will es
nicht kennen, sie ignoriert seine Kenntnis wissentlich. Es wurden
schon Mitglieder exhumiert und aus der Partei geworfen, die es vor
Zeiten den Genossen zur Kenntnis bringen wollten, denn es ist die
Parole aller, die das Denken noch nicht verlernt haben. »Habe Mut,
dich deines Verstandes zu bedienen!« – und
flutsch! wieder
ein Parteimitglied weniger. Mit Gleichmut geben, mit Gleichmut
nehmen, vor allem das kleine Entgelt für die Portokasse – das ist
die Parole aller Parteien, die im Verstand die Wurzel allen Übels
verorten, solange nicht irgendeine Zentrale ihn steuert. Dann
natürlich wendet sich das Blatt und
ein Verstand tritt
hervor, besessen bis zum Abwinken, bis zur kollektiven Besessenheit,
denn besser als ein gehabter wirkt ein besessener Verstand allemal.
Stimmt die Zuwendung, stimmt der Mut: Wer die Welt ändern will, der
braucht Geldgeber, damit am Ende die Richtung stimmt. Sie muss doch
stimmen, die Richtung, oder? »Die Richtung stimmt«, sagt der
Genosse Kassenwart, wenn die Kasse stimmt, er sagt es mit Nachdruck,
als Champion aller Klassen kennt er die Alternativen und taxiert sie
kühl.
GLOTZÄSTHETEN
Glotzästheten nennen wir jene Bewunderer des Ausgefallenen (oder dessen, was sie dafür halten), die den Objekten ihrer Leidenschaft mit dem Ausdruck ›Wow!‹ auf den Lippen gegenübertreten, um dann zu verstummen. Man könnte sie die fleischgewordene Weigerung nennen, ein Urteil – und gar ein ästhetisches! – zu fällen. Doch damit hätte man dem Glotzästhetentum bereits ganze Zweige der sogenannten Wissenschaften von der Kultur zugerechnet, Kunst und Literatur inbegriffen. Warum auch nicht? Wo der Sehbefehl des Marktes oder der Ideologiewächter endet, sehen sie nichts – sie sehen nichts, sie hören nichts und ihre himmlische Landesmutter ernährt sie doch.
GLÜCKSFEE
Nicht über meine Leiche, sagt die Glücksfee, sie meint ›Nur über meine Leiche‹ und drückt sich etwas merkwürdig aus. Andererseits: die Leiche der Glücksfee – was soll das sein? Vielleicht ist es ja ein Glück, dass sich in diesen Regionen niemand zu Hause fühlt. Wenn einem die Glücksfee selbst den Weg versperrt, dann sollte man sich nicht zimperlich zeigen und ihr die Rechtsprachlichkeit erlassen. Das Glück der Wörter findet sich ohnehin anderswo.
GLÜCKSHORMON
Finde für alles den krassesten Ausdruck – und verwirf ihn.
GNOSIS

Du kannst den Gedanken an eine persönliche Vorsehung kalkulieren,
du kannst ihn ablehnen, aber verhindern kannst du ihn nicht. Wie
immer du es anfängst, wie immer in dem Geduldspiel du die Begriffe
legst: sobald du es unternimmst, diese Sache, die dich verfolgt,
irgendwie a-persönlich zu denken, beginnt die Seinsschwafelei, die
dich nicht befriedigt. Sie kann dich nicht befriedigen. Das
erfingerte Nichts ist immer zu bunt – zu bunt und zu eintönig, um
die Phantasie und das Denken für längere Zeit ruhigzustellen. Wie
das? Schließlich nistet die Vorsehung im unruhigen Denken, in der
Unruhe selbst, die nur aus Verlegenheit vorwärts will, sie würde
genauso gern seitwärts ausbrechen und es gelingt ihr oft genug.
Natürlich lässt der Gedanke, das Vorgesehene sei auf dem Weg, die
Neugierde sinken, er ist, alles in allem, ein beruhigender Gedanke,
der auf der Stelle Metastasen treibt. Diese Nebengedanken sind
lästig, aber auch interessant, sie locken das Denken auf Abwege und
es bedarf schon des Hirten, um sie zurückzutreiben, des
guten Hirten... Hier
stockt die Rede, wie abwesend geht sie zurück in den Kreis des
Gebimmels, das vorwärts zieht, in die Ruhe der Leiber, die ihr
Schicksal miteinander teilen. Kaum sind wir autonom,
erinnert unser Körper an fatale Abhängigkeiten und vor allem
ans Ende, vor allem und jedem ans Ende, an jene Ruhe, auf welche
das Denken zueilt und vor der es erschrickt, mit welchem Vokabular
auch immer. Ja, auch das Denken selbst kann erschrecken, nicht nur
das Tier oder das liebe Gemüt. Sicherlich hat es dafür seine
Gründe, doch man erschrickt nicht aus Gründen, auch das Denken
erschrickt nicht aus Gründen, eher aus Abgründen, aber das ist bloß
Wortspielerei. Es schreckt zurück und man kann nicht wissen, ob es
ein Gedanke ist, vor dem es zurückschreckt, oder ein Nichtgedanke,
eine Lücke im Netz des Denkbaren. Solche Lücken gibt es ganz ohne
Zweifel, Denken bedarf der Bahnungen und wir können nicht wissen,
ob dort, wo heute die Lücke sich auftut, morgen eine Rennstrecke
liegt. Wir können es nicht wissen, aber etwas in uns sagt, dass
dies ein infinitesimaler Prozess ist und die Lücke nach innen immer
Raum hat.
Wenn das Denken erschrickt, gibt es keinen Ausweg, keine Therapie,
keinen
Auslauf. Die
unerreichbare, stetig drohende Denkruhe ist etwas Seltsames und es
sieht aus, als sei so etwas wie die sprachanalytische Philosophie
eigens erfunden worden, um es zu bedecken, jedenfalls gibt sie dem
Denken zu tun wie einem Hund, den man apportieren lässt. Dieses
Erschrecken trägt einen altertümlichen Namen: Gnosis. G. heißt
Wissen, das weiß jeder, es ist sozusagen der Anfang des Wissens,
hinter den es kein Zurück gibt in die sokratische Attitüde. Doch,
ich weiß, ich weiß mancherlei, und es ist Unsinn zu behaupten, es
bedürfe einer Methode, um wirklich zu wissen – gerade diese
Behauptung liegt vollkommen außerhalb jeden Wissens, sie ist naiv.
Im Wissen weicht der Weltsinn vor der Brandung zurück und flüchtet
sich in Hieroglyphen, z. B. die der Wissenschaft, aber es gibt auch
andere. Es gibt immer andere und es ist immer Wissenschaft, sobald
und solange es angesagt, solange es
an der Reihe ist. Leichtgläubige
pflegen über Leichtgläubige zu lachen, Ungläubige über Ungläubige.
Nicht der Glaube, der Unglaube enthält das Wissen, er enthält auch
den Glauben, er ist das Umfassende, aus dem das andere
hervortreibt. Deshalb nennen sie den gläubigen Menschen einen
Wiedergeborenen, anderenfalls einen Naiven. Naiv sein heißt, den
Akt des Glaubens nicht zu kennen, von dem der Gläubige
weiß. Dieses Wissen, diese Gnosis ist
nie von dieser Welt, sie ist immer schon ›jenseits‹ und hat den
naiven Glauben preisgegeben, man könne weltgläubig wissen. Sie weiß
es besser.
Abwehrzauber, in vollendeter Putzigkeit auf Kathedralen montiert:
Dämonen, Engel, Schnellfeuerwaffen des Lächelns, auf einen Wink hin
imstande, ganze Landstriche mit Tod und Verderben zu überziehen.
Gnosis ist das Unterfangen, die Existenz ins Denken zurück zu
verlegen. Denken will Lösungen. Und so lautet die Lösung, vor der
allen graut: Gnosis. Nehmen wir den extramundanen Gott – er lässt
sich nicht anders als unpersönlich denken, gerade in dem Maß, in
dem er außerhalb steht. Und das ist die Wahrheit:
Er lässt sich denken – so wie man
sagt: er lässt grüßen. Nenne ihn Prinzip und das Denken beginnt
wieder zu gleiten. Mit Prinzipien kennt es sich aus, mit ihnen kann
es umgehen, es bedarf ihrer zu jeder Stunde. Prinzipien sorgen
dafür, dass sich die Kammern mit Welterkenntnis füllen, mit
Mundanität, also mit dem, worin jener Gott nicht ist. Er steht also
außerhalb wie der Pflock, um den ein Hund seine Kreise zieht, bis
der Spielraum, den die Leine gibt, aufgebraucht ist. Es war ein
kesser Spruch, zu behaupten, er sei tot, aber ein kesserer, er sei
lebendig, denn wenn sich das Leben nach ihm verzehrt, dann wäre
sein Begehren nach sich so groß, dass es ihn erdrückte.
Leben will leben, aber es will auch
tot sein, es will den Tod denken, es will ihn fühlen, es will ihn
antizipieren, es will den Tod im Leben und es will das Leben im
Tod. Das ist banal, aber nicht trivial, es ist das offenbare
Geheimnis, vor dem allen graut. Graut ihnen vor Gott? Das ist eine
dumme Redensart, es graut ihnen vor nichts, außer davor, dass es
immer weiter geht, dass jede Erfahrung bis in ihren letzten Winkel
aufgebraucht wird und dass dieser Prozess approximativ ist – nie
das Letzte erreichend, aber jeden Halt übersteigend. Es graut ihnen
auch vor dem, was sie hinter sich haben. Niemand, der seine Sinne
und seinen Verstand beisammen hat, möchte zurück. Ist das die Welt?
Ist das die Flucht? Und wie nennen wir die Stimme dessen, der von
›Verweltung‹ aller Begriffe schwätzt?
GOEBBELSSCHOCK
Die deutsche Literatur hat den Goebbelsschock nie überwunden, sie ist staatsaffin geblieben noch in ihren scheinbar staatsfernsten Äußerungen, selbst bis in die vorgeschriebenen Lebensläufe hinein, nur dass dieser Umstand von allen Seiten sorgfältig verborgen wird, denn ihr ›Image‹ besteht darin, unbestechlich und vor allem unbeirrbar zu sein, es sei denn, die Zeitläufe selbst verlangen die notwendigen Korrekturen. Und gewiss, sie verlangen sie. So hat die sogenannte ›Flüchtlingskrise‹ im Buch literarischer Botmäßigkeit ein ganz neues Kapitel aufgeschlagen: ›Migrantenliteratur‹, bis dato ein Genre unter anderem,
unter ferner liefen, um genau zu sein, wurde augenblicklich Pflicht und jeder Schreibfinger, der weiterkommen und seine Miete bezahlen möchte, besitzt neuerdings einen religiös getupften Wanderungshintergrund, der sich gewaschen hat. Davor benötigte, wer ›reüssieren‹ wollte, die richtige Biographie Ost (oder die falsche, auch daran ließ sich ›lernen‹), davor das antifaschistische Elternhaus, das sich nicht selten als das faschistische erwies, aber es ging auch andersherum. Eine Ehrensache für alles, was bereits länger in diesem seltsamen Lande lebt und schreibt, waren und sind, jedenfalls im Westteil, die ’68er Anfänge – ohne sie ging lange Zeit gar nichts. Noch immer sitzen ihre Opfer – denn es handelt sich um Opfer,
wirkliche Opfer einer biographischen Notwendigkeit – in endlosen Gesprächsrunden herum und verbreiten ihre seit jenen glorreichen Jahren gewonnenen Erkenntnisse. Leider haben sich nach und nach die Sachbuchautoren und schließlich der eitlere Teil der Professorenschaft aus den zeitgeistbewegten Fächern zwischen sie und das belehrungssüchtige Publikum gedrängt, so dass ihr Anteil am öffentlichen Gerede stark abgesunken ist; böse Zungen behaupten sogar, es tendiere gegen Null und das sei gut so, da sie ohnehin nichts zu sagen hätten. Was so einfach nicht stimmt. Sie hätten noch viel zu sagen, aber der Buchmarkt lässt es nicht zu und die Germanistik, die gute, interessiert sich, seit sie den Eigenwert von Symbolisierungsprozessen für sich entdeckt hat, für alles andere, nur nicht für sie. Was sie ›Gegenwartsliteratur‹ nennt, entnimmt sie, wie einst die Feuilletonschreiber, den im Netz aushängenden Waschzetteln der Verlage und jagt es durch die eigenen Verwertungsmaschinen wie Geologen irgendwelche Gesteinsproben, nur die Goldsuche ist ihr fremd. Staatstragend sind auch ihre Themen – bis in die Intimbereiche hinein, nur dass nicht sie den Staat tragen, sondern er sie, zumindest erträgt er die Ausgaben, die sie verursacht, leichter, seit er sie über die Vergabe von Drittmitteln kontrolliert. Ansonsten gilt die Devise: Listen führen, Listen abgleichen, Listen weiterführen … das entfernt sich weit von der List der Vernunft, aber es sorgt für ordentliche Gehälter und das ist gut so.
GOOGLEHOOPF
Der G., auch Suchmaschine genannt, ein enger Verwandter des Pfaus, weniger lethargisch allerdings, doch ebenso schillernd: eine Augenweide für alle, die’s bunt mögen und nicht kopfscheu werden, wenn tausend Augen auf sie zurückblicken, wobei ›tausend‹ eine wegen ihres Gemütswertes gegriffene Zahl ist, denn die wahre Blickzahl kennt keiner. Das ist auch nicht nötig, denn das Gefieder des G. entschädigt für alle Unbill. Welche Anmut in der Bewegung! Welch klug gezügelte Kraft! Welch redliche Weise, dem Dasein zu dienen!
Dienst am Dasein – so ließe sich bezeichnen, was alle Welt G. nennt, als Zeichen der Vertrautheit, aus Freude am reinen Dasein, denn wer sich da nicht findet, der hat Grund, an dem seinen zu zweifeln. ›Gelöscht‹ ist eine Merkform des Abhandenseins, die sich dem sozialen Tod an die Seite stellt und ihn in mancher Hinsicht übertrifft, weil sie umfassender informiert. Sie kommt gleich nach der Kreuzigung, als Bauernopfer der Erlösung, die immerwährende Anwesenheit verspricht. Manche G.-Freunde verlangen selbst danach, gelöscht zu werden, ihr Durst danach,
nicht erlöst zu werden, hat sich des Verlangens nach Erlösung bemächtigt und gibt es nicht wieder her. Solche Formen der Geiselhaft sind dem Soziologen kostbar, sie rechtfertigen es, dass er sich unter die Religionswissenschaftler rechnet und den Tag mit Kreuzworträtseln verbringt. Erlösung durch Nichterlösung zählt zu den Geheimwaffen autoritärer Regime. Welches wäre autoritärer als das des Egalitärs aller Inhalte? Eines fernen Tages – der vielleicht näher ist als erwartet, obwohl die Erwartung ihn schon tausendmal antizipiert hat – wird auch G. gelöscht sein, verschwunden das Gefieder, verschwunden der Ort seines Erscheinens, verschwunden die Fülle des Daseins, die sich durch diesen Kanal zwängte. Das wird der Tag einer anbrechenden Hoffnung sein: Warten auf G.
GOTTESGEN
Die Frage, ob Gott existiert, ist bei weitem nicht so brisant, wie immer behauptet wird. Näher besehen, verschwindet sie in den Weiten des Universums, des existierenden wie des inexistenten. Wer mit inexistenten Universen rechnet, der rechnet mit allem, außer mit Gott. Mit Gott rechnen, das wäre so, als rechnete man mit allem. Mit allem rechnen heißt bekanntlich mit nichts zu rechnen, es darauf ankommen zu lassen, sich ins Ganze zu stellen. Mit Gott rechnet man nicht, mit Gott rechtet man. Was das heißt? Jeder Mensch feilscht um seine Rechte, vor allen anderen um das Recht, da zu sein, so zu sein, wie man ist, so angenommen zu sein, wie man ist. Dass dafür Gott zuständig ist, steht außer Frage, er tritt aus dem Feilschen hervor wie die Figur aus dem Schatten, den sonst keiner würfe, er ist aber schon geworfen.
Der Mensch ist das Tier, das Gott hat. Eines Tages wird einer das Gottesgen finden, daran besteht kein Zweifel, kein vernünftiger jedenfalls, man findet für alles Gene,
peu à peu, da mögen die Genleugner schreien, wie sie wollen. Überhaupt ist Schreien das einzige, was sie können, sie müssen übertönen, was doch, als Hauch, in der Welt ist. Das Geschrei zum Beispiel, dass Gott tot sei, rechtet damit, dass Gott lebt: einer schreit
Er oder ich und schon ist es geschehen. Was ist geschehen? Das Wunder der Parodie. Niemand weiß, ob Gott lebt: Leben, Tod, was sind das für Zustände, wenn das Ganze zurücktritt? Ein echter Gottesleugner geht anders vor, er streut Ursachen, wo naive Gemüter Wirkungen sehen, und stellt die eine Ursache in Frage, weil er sie nicht braucht. Er verlegt Gott in die Fläche, weil er ihn für die Ursache hält, die große Ursache, die jeder Relativierung standhält. Hätte er sie im Sack, er wäre der Größte und der Wissenschaftsbetrieb umtanzte ihn wie das Goldene Kalb. Einer sagt: »Ich kann nicht glauben« und glaubt, was er sagt – auch eine Glaubensformel und nicht die schlechteste. Wer kann schon glauben? Können und Glauben schließen einander aus, geglaubt wird dort, wo das Können nicht hinreicht, es wartet nicht auf Erlaubnis, wenn alles Pulver verschossen ist, es ist schon am Ziel.
GOTTESHELDEN
Dass der generationenprägende Satz »Gott ist tot« ein Zauberspruch war (und ›durchaus‹ so gemeint): wer wollte das bestreiten? Der Tod Gottes als ›epochales Ereignis‹ fällt ins Zeitalter der Massensuggestionen, manche sagen: der Massenhysterie, in eine Zeit technologiebefeuerter Überbietungen früherer Schauspiele auf diesem blutigen Sektor. Mit ihr sinkt er zurück in die Kulturgeschichte Europas. Denn soviel ist sicher: außerhalb dieses begrenzten Areals hat er niemals stattgefunden. Der alltägliche Atheismus der Leute beinhaltet wenig mehr als die Gottlosigkeit vergangener Zeiten – ein wenig Trotz, ein wenig Auflehnung, ein wenig Widerspruchsgeist und ein wenig Unglaube, hier und da unterfüttert mit den verjährten Banalitäten des ›wissenschaftlichen Weltbildes‹, allenfalls ein tentatives Moment, das sich dem Zuschauer-Dasein verdankt: Gotteshelden, negativ oder positiv, behalten immer etwas Pittoreskes, ihre Kämpfe bleiben Turniere, selbst wo sie schauderhaft entgleisen.
GOVERNANCE
Das Rattenexperiment »
Gesellschaft« nähert sich seinem kritischen Punkt, sobald die Empfindung der Leute, übertölpelt (›verarscht‹) zu werden, das Gefühl, durch Anreize verwöhnt zu werden und sich gern verwöhnen zu lassen, zu überwiegen beginnt. Wenn die großen Anreize ›geschaffen‹, das heißt vergeben sind, kommen die kleinen dran, nach den kleinen die speziellen, deren Nutzen der auserkorene Nutznießer schon mit der Lupe suchen muss, nach den speziellen die ganz speziellen, also diejenigen, die wieder abzuschaffen, sobald sie die Macht dazu hat, die Opposition bereits bei der Einführung versprochen hat. ›Aufwertung durch Polarisierung‹ heißt dieses Spiel, doch natürlich gelangt der Hauptzweck der Polarisierung erst darin zum Vorschein, dass sich durch sie systematisch Gefahren verdecken lassen, die vielleicht nur statistischer Natur, vielleicht auch bereits im Anmarsch sind und sich keineswegs nur auf Nullsummenspiele beschränken. Eine Gesellschaft, auf deren Stabilität siebzig oder neunzig Prozent der Befragten keinen Pfifferling geben, ist keine Gesellschaft, sondern ein Verein zur Erwartung der verdienten Strafe für unverdientes Nichtstun – unverdient deshalb, weil nach wie vor Leute an seiner Spitze stehen, die es sich als Verdienst anrechnen, ›Zukunftssicherung‹ zu betreiben, und zwar mit eben jenen Finessen, die oben beschrieben wurden. Das Nichtstun steht immer zwischen den Zeilen des Verdienstes, es hadert mit denen oben wie unten zu gleichen Teilen und ist bereits Teil der passiven Maßnahmen, die ergriffen werden, um sich nicht vor der Zeit verdummen zu lassen von dem, was kommen wird.
GRABBEAU

Père Grabbeau war kein hübscher Mann, er besaß nur ein menschliches
Ohr, das andere war ihm in Folge eines verbrecherischen Konzertes
abhanden gekommen. Seine Gestalt, ein wenig vorbestimmt durch
Gedichte von Trauerweiden, bot den Ausdruck pflanzlicher Weisheit.
So lag er denn oft gekrümmt und in grauer Farbe an Bächen. Seine
Sprache war leicht wie Aluminium, seine Worte wie Tiegel und
Pfannen, die man in China Hui oder Phui nennt, je nachdem sie
benutzt oder gesäubert wurden.
Sein Herz aber war so zäh wie Leder, denn das
Leben liebte er nicht, noch die
Notdurft, noch die Sünde, noch das Leben der Tiere, wie es heute
geliebt wird, und sogar Sonne und Mond waren ihm beide vollkommen
gleich, denn gesunde und große Sinnestäuschungen waren ihm
angeboren von Jugend auf.
Das durch den spirituellen Archäologen
Homomaris von Lichtel entdeckte Grabmal des
Demiurgen hat er übrigens niemals besucht, obwohl er es gekonnt
hätte, denn er wusste vom großen Murx dieser Welt durch
Wahlverwandtschaft. Der gescheiterten Macht, so nannte er seinen
Großonkel mütterlicherseits, nahm er die berühmten acht Tage nicht
weiter übel. »Wer weiß«, pflegte er bei theologischen Intimitäten
zu sagen, »wie dieser mindestens so wie ich zur Hälfte gehörlose
Gott eine solche Kritik verstehen soll. Auch ist er vermutlich tot,
und über Tote nur Gutes.« Grabbeau wußte damals noch nichts vom
Aufenthalt eines gleich Barbarossa aufs tiefste verdeutschten
Gottes, in einer gemalten Villa hoch im Albanergebirge. Ein Werk
Hans von Marées’. - PM
GRABSPRUCH, voreilend
Sie wollten es, bitte, eine Nummer kleiner und dachten sich dabei gerne groß.
GRAB-BEAU

»Greif dir das Schöne« – eine Aufforderung, nicht ohne Hintersinn,
wo wäre das Schöne zu greifen oder nur greifbar? Wo es doch das
Ungreifbare schlechthin... Wenn man doch, wie einst Dürer, es
herausreißen könnte, dann wäre man sicher weiter. So reißt einer,
immerhin, das Blatt aus dem Notizbuch, knüllt es zusammen und
überantwortet es dem Papierkorb oder dem Fegefeuer, in der irrigen
– oder nur irren – Hoffnung, damit einen Prozess der Läuterung in
Gang zu setzen, an dessen Ende... was? In diesem Prozess ist das
Schöne stets weiter, es spiegelt ihn und verdoppelt damit den
Abstand, der es von seinem Verfolger trennt. (Die Metapher des
Spiegels, ausdeutbar ohne Ende wie das Meer oder die Bewegung des
Deutens, ist viel zu ehrwürdig, als dass man sie dem
Begriffspurismus opfern dürfte.) Nur im Stillstand verschwindet es
ganz von selbst. Es ist seine einzige autonome Tat.
Unglückseligerweise findet sich immer jemand, der weiter will. Das
ist ein alter Tick, ein Geburtsfehler der Gattung vielleicht,
jedenfalls ein Fehler, daran lässt sich nichts ändern. So starrt
einer auf einen Punkt an der Wand und gewahrt eine Passage, schon
keine Überfahrt mehr, sondern eine Folge... von Wörtern auf einem
Bildschirm, blau unterlegt. Das, immerhin, ist Reminiszenz. Wo
gleitet sie hin? Ins Remis? In die Remittentensammlung? Das
wäre doch was, in diesem Halbdunkel lässt es sich aushalten. Das
Schöne, jawohl, es hat einen Riss, ein geknicktes Blatt, eine
verdruckte Seite, eine falsche Bindung. Etwas wirkt immer verkehrt
an ihm, nicht verdreht (auch das kommt vor, aber seltener). Das
Schöne als Remittent, von unbekannter Hand zurückgegeben, mit der
Bitte, den Kaufpreis erstattet zu bekommen, vielleicht auch in
einem Anfall von Generosität an Leute gespendet, denen damit
geholfen ist – eine Vorstellung, die ›Hoffnung macht‹, auch wenn
sich kein geeigneter Abnehmer findet, nur der eine oder andere
Liebhaber des Absonderlichen, der still den Staub von der Kante
wischt und es wieder zurückstellt, denn höflich, wie er ist, möchte
er keinem Bedürftigen etwas vorenthalten.
GRAD, ZWEITER
Aufgabe: die Luhmannianer beobachten: immer, überall – wie sie sich
bewegen, sich darstellen, sich behaupten, sich in Sicherheit
wiegen: das Arsenal der Griffe. Die Reduktion auf vier oder fünf
Grundbegriffe und die Zufriedenheit, die sie bei der Menge
derjenigen erzeugt, die den Widerstand des Denkens nicht empfinden.
Begriffe als Waffen. Waffengleichheit. Waffenungleichheit. Was
daraus entsteht? Warum beobachtet man Sekten? Man sieht zu, wie sie
Positionen einnehmen, wie sie auf Positionen drängen, sich
vernetzen usw., man sieht ihr Machtstreben und will ihm rechtzeitig
einen Riegel vorschieben. Andererseits erregt der Angriff einer
Gruppierung, die sich im Wissen wähnt, Interesse: Man will den
Barbarenzug sehen, man will sehen, wie er sich totläuft. Als Filme
noch ›Streifen‹ hießen, ließ sich das einfacher benennen: Man will
den Streifen sehen, den Streifen Wirklichkeit, wie er sich zwischen
Jalousien abzeichnet.
GRAL

Wo je die Sonne zu einer bedeutenden Wirkung gelangt ist, mussten
die Menschen einen Gral vermuten, denn Sonne und Gral sind enge
Verbündete, gleichsam Feuer und Kochtopf, aber natürlich auch
Stätten des Blutes, das in animalibus abstractis, durch Hitze
vergoldet, seinen Herrscher am Himmel preist.
Nicht nur ist das Kochen der Materie die erste gewaltsame und
sonnenhafte Leistung der Kunst gegenüber der rohen Natur, auch der
Topf, das Gefäß zur Sammlung künstlich vermischter Naturalien,
diente zugleich dem großen Opus der Freiheit vom Grasfressen und
dem rohen Zerreißen der wilden Tiere. Auf diesen Wegen bis hinauf
zu den ersten Symbolen gilt die Sonne als glühender Topf für Opfer,
Speise und Blut. Man kann beide Funktionen auch trennen, wenn in
Zurückführung ihrer Aufgaben sowohl die Sonne als Topf, als auch
ihr glühendes Gold als Blut begriffen wird. Insofern empfand sich
schließlich der aufrecht wandernde Mensch als Untertan einer
göttlichen Sonne, und zu Zeiten der Unkenntnis oder
Gleichgültigkeit gegen Oben und Unten, sogar als Sonnennachbar, wie
dies die Stämme der Ostraloiden unter dem Wendekreis des Steinbocks
behaupten, weil sie ohne Kenntnis des Zollstocks Entfernungen eben
nicht als messbar begreifen können. Über ihnen steht die Sonne
unmessbar weit oder ebenso unmesssbar nahe. Die Dogmen von Links
und Rechts, von Oben und Unten sind überhaupt durch Zurufe, als
Maßeinheiten, nicht zu entdecken gewesen, man denke dabei noch an
Täuschungen durch das Echo. Erst Augensprünge und aufgestellte
Stäbe am Horizont machen bis heute Entfernungen messbar. Das Auge
sei überhaupt die Wurzel des festgelegten Besitztums, schreibt
Ultimus Spezis, der erste Verfasser ländlicher Sinnesmessungen. In
Norwegen sagt man sogar bei falschen Eintragungen ins Grundbuch
sehr treffend, »du hast wohl zu lange Augen« oder »dein Stab war
wohl länger als der von Herrn X.«
In den Zeiten der Ritterschaft, ihrer Kämpfe und Opfer, überwölbte
der Himmel bereits die neue Natur und mit ihr das Blut. Und der
Speer mag hier und da auch der erste Zollstock geraubten Besitzes
gewesen sein. Viele einfache Gegenstände hatten sich vom
göttergeschenkten Nutzen zum Menschengeist absentiert, der Löffel,
ein Geschenk der Hera, ward so zum Schwert, die Gefäße der Venus
mutierten zu Helmen und schließlich sogar zu steinernen
Kathedralen, denn jeder Altar war letztenendes auch einmal ein
heiliger Ofen. Die Sonne aber wurde auf diese Weise als Gral
vergessen, weil sie und mit ihr der Gral, nunmehr als Wahrheiten
unseres eigenen Geistes gesucht, niemals zu finden sind. Man kann
sogar sagen, hierin bestünde das Opfer der menschlichen
Vergeistigung höherer Welten, hin zur Ratio einer erfolglosen
Metaphysik. - PM
GRAMMATIK
Was bedeutet es, in der Grammatik der eigenen Sprache nicht ›firm‹ zu sein? Offenkundig etwas anderes als ›nicht zu Hause zu sein in der gedeuteten Welt‹. In der Grammatik liegt die Welt nicht gedeutet vor, sie ist deutungsoffen. Jenseits der Grammatik, d.h. eigentlich diesseits, denn es gibt kein sprachliches Jenseits der Grammatik, es sei denn, man nimmt die pure Logik des Denkens dafür, soweit sie sich in sprachlich neutralen Ausdrücken präsentieren lässt, – diesseits der Grammatik, so hoffen viele, schließt sich die gedeutete Welt wie eine Wunde. Es verschließt sich aber nur der Zugang zu ihr. Was übrigbleibt, ist die Trübheit des Meinens, das weder seine Herkunft kennt noch sein Schicksal, die Dissimulation. Wer es auflösen will, hat es gegen sich. Das wäre dann auch die kürzeste Definition aller Rechthaberei mit Wörtern.
GRANDHOTEL ABGRUND

Ab heute ist das Grandhotel Abgrund wieder bewohnt. Es hat einige
Besitzrangeleien gegeben, die rechtzeitig beigelegt werden konnten,
soweit sie nicht grundsätzlicher Natur sind und der Bearbeitung
durch künftige Gerichte harren, doch die streitenden Parteien haben
das Interesse an dem Fall soweit verloren, dass sie die Eröffnung
nicht länger blockieren. Das Haus selbst ist, sagen wir es offen,
verwahrlost, es bedarf einiger Anstrengungen, um es an die
gestiegenen Bedürfnisse anzupassen, doch manche Kundenwünsche haben
sich auch, wie man sagt, abgeschliffen und andere sind einfach
vergangen. Schon das Wort ›Kundschaft‹ hat seinen Klang vollkommen
verändert und mancher ist heute willkommen, der damals bereits auf
der Schwelle von Fremdheitsempfindungen heimgesucht und zur Umkehr
bewogen worden wäre. Insgesamt ist die Klientel vermutlich
geschrumpft, was dem Service keinen Abbruch tut, im Gegenteil. Aber
was heißt schon Klientel, wenn man gerade einmal dabei ist, die
Spinnweben zu entfernen und den Garten wieder begehbar zu machen?
Überhaupt steht das Begehbarmachen heute im Vordergrund. Die
Leitung des Hauses überlegt, ob sie nicht Seminare zum Thema
anbieten lassen soll. Es wäre eine hübsche Einnahmequelle.
GRASS
Der Aufschneider hat in Deutschland eine lange Tradition, er trägt das Messer im Sack und träumt von der Nacht der langen Messer. Meist hat er sich daher geschnitten, ohne dass er es merkt. Blutet der Finger, so hebt er ihn hoch und sagt: »Seht!« Gewöhnlich haben es alle gesehen und zwinkern verständnisvoll, als wollten sie andeuten, dass Danzig zwar längst verloren ist, aber weiterhin Spaß macht. Das Volk liebt seine Aufschneider, nur sein täglich Brot schneidet es gern selbst.
GRASTEUFEL
Die wilden Kriegsnamen, wie Bandenführer sie lieben, klingen nach Donnergrollen oder sollen es doch. Der Schrecken, den sie aufbauen, wächst mit dem Maß der Entfernung zum Schauplatz. Im Zentrum des Geschehens, dort, wo sie am meisten wirken müssten, ist von ihnen nur mit einem Lächeln die Rede, als wisse man darüber Bescheid. Bekanntlich brauchen Bescheidwissen und Wildheit einander nicht. Bei reinen Tarnnamen allerdings liegen die Dinge anders. In diesem Milieu sind Nennen und Verschweigen eins und das Bescheidwissen übt sich in stolzer Bescheidenheit. Überhaupt der Stolz! Wer die Tarnung verlässt, ohne sie aufzugeben, tut dies im Namen des Stolzes, so, als sei dieser eine fremde Größe, der man von Zeit zu Zeit zu huldigen habe. Einer, der sich Grasteufel nennt, ist dazu bestimmt, als Armee wiedergeboren zu werden. Eine Armee von Grasteufeln mag ins Gras beißen, wo und wann sie will, aber auch sie ist dazu bestimmt wiederzukehren: Mit dem Schrei
Yes we can stürzt sie sich über die Klippen und endet im Marmor, der gestern aus Zeitungspapier und heute aus Daten geschlagen wird, je mehr desto besser.
GREISENGIFT

Ich kenne da einen Fall, so A., in dem ein Kritiker, fast schon im Jenseits, noch einmal zurückkommt und einem Filmemacher, den er vor fast zwanzig Jahren vernichtet hat, die Hoffnung auf ein Comeback zerschlägt, einfach so, aus einer Greisen-Halsstarrigkeit heraus, die sich nicht die geringste Mühe macht zu erkunden, worum es diesmal überhaupt geht. Ich habe mich gefragt, warum solche Dinge geschehen, und bin zu dem Ergebnis gekommen, dass erst der zweite Schlag an den Tag bringt, worum es beim ersten Mal ging. Denn damals, beim ersten Mal, als noch beide Seiten im Rennen waren, gab es Gründe genug, sich zu verstellen, auch erzeugt jede Art von Beschäftigung, und sei sie noch so rudimentär, einen Schein von Objektivität. Jetzt, beim zweiten Mal, agiert die Erinnerung, aber blind und vor allem grundlos, es sei denn, man nimmt den alten Hass als Grund ernst und lernt ihn dadurch kennen. In seinem Fall ist es der des gewendeten Hitlerjungen auf einen, der es von Haus aus nicht nötig hatte, sich zu verdrehen, des Quirls auf den Kochlöffel, wenn Sie so wollen. Also hängt er ihm an, wovon er sich selbst nie so recht befreien konnte. Was eine Zeit lang Kritik hieß, stammt in den meisten Fällen aus Quellen wie dieser – unbrauchbar, ärgerlich und streckenweise verstörend. Gerade das wollten er und seinesgleichen sein: verstörend, sie wären jedem um den Hals gefallen, der es ihnen attestiert hätte. Verstört, wie sie waren, konnten sie nur ihresgleichen gelten lassen, es sei denn, eine patentierte Ideologie verlangte gebieterisch Durchgangsrechte oder etwa ein Popstar geruhte gnädigst, sie nicht zu bemerken, während er die Wogen der Aufmerksamkeit teilte.
Nein, Jungs, das war nichts, damals nicht und in der Reprise erst recht nicht.
GRENZE
Die Grenzen der
Kunst
verlieren sich im Unendlichen. Gefehlt: die Grenze der Kunst liegt
im Hier und Heute.
Hic Rhodus,
hic salta. Das Hick und Hack bildet ein Heute von unerhörter
Gewalt, in dem die Schaumkrone des Erschauten, Erhörten und
Erlesenen sich immerfort aus den verwachsenen Untiefen des
Unerschauten, Unerhörten und Ungelesenen erneuert. Die Selektion
ist gütig, denn sie trennt das Gute vom Unguten. Die Selektion ist
grenzenlos, denn sie bezeichnet die Grenze. Sie ist nicht ohne
Fehler, wie sie unter der Hand einräumt, aber sie ist das
notwendige Jetzt. Als solches nimmt sie jede Gestalt an, um zu
überleben. Sie ist das übergängige Heute, das sich ins Morgen
ergießt wie ein Strom, bei dem niemand fragt, wieviel von ihm auf
jedem Wegabschnitt, über den er sich wälzt, versickert. Es ist auch
nicht wichtig, da alles, was versickert, an anderer Stelle zutage
tritt und in Flüssen rauscht, die vielleicht dem gleichen Strom
zufließen, der dann nicht mehr derselbe ist. Eine wässrige
Metapher, könnte es einem scheinen, der trockenen Fußes
hinüber will.
GRENZREGIME

Die Politik der offenen Grenzen hat Grenzzäune in den Köpfen aufgerichtet, von denen man vorher nicht wusste, dass sie überhaupt existierten. Das offene Denken setzt Grenzen voraus, die sich nicht jedermann öffnen: die Regulation geschieht draußen, vor der eigenen Haustür, man kritisiert sie umso heftiger, je schärfer sie gehandhabt wird. Der Mensch ist eine Erfindung der Serenissimus-Welt, in die Eintritt fand, wer dem Souverän passte. Wer draußen blieb, der war ›Mensch‹: ein Lesebuch der Human-Natur. Der Kolonialismus erfand den Eingeborenen, ein Abfallprodukt des mobilen Bürgers, dem die Welt offenstand, sobald er eine Mission erfüllte. Das postkoloniale Menschenrecht dreht die Verhältnisse um: Bürger, denen die Welt weiterhin offensteht, sofern ihr Konto oder eine Spezialausbildung es hergibt, mutieren zu Eingeborenen, Staatsbürger, denen die Flucht einen Status verleiht, der so begehrt ist, dass er den nassen Tod aufwiegt, zu Weltbürgern. Wer gestern Mensch war, ist heute Flüchtling, wer heute Bürger ist, wird morgen Fremder im eigenen Land sein. Der Eingeborene, heißt das, bleibt der Fremde, immer und überall, er ist das Skandalon der Geschichte, ein Vorzeit-Relikt, dem das Niveau abgeht, auf dem man sich gegenwärtig bewegt. Wer diese Karte zieht, dem bleibt nur das bittere Lachen, ein kleiner Zynismus vielleicht und viel Gesinnung, die jeder beleidigen darf, der weiterzukommen wünscht.
Die Erde ist eine Scheibe: darin besteht, wie immer, die Definition des Eingeborenen, der seine Mitte nicht aufgeben will. Wer darin Nationalismus wittert, hat die Nation nicht verstanden. Die Nation hebt den Eingeborenenstatus auf, immer und überall, doch nur in ihren eigenen Grenzen. Sie ist die
erste Mobilisierung, der die zweite, grenzüberschreitende, überall auf dem Fuß folgt. Eine Politik der forcierten Grenzöffnung ›expropriiert‹ die Nation, sie schafft neue Klassen von Hörigen, denen die Obrigkeit vorschreibt, wie sie zu leben und zu denken haben. Wer die Definitionsmacht über die Grenzen verliert, innerhalb derer er zu leben gedenkt, hängt am Tropf eines Staates, den er ablehnt – innerlich, wie denn sonst. Wen wundert’s, wenn linke Systemkritik unverhofft mit dem Staat geht: er geht ihr nicht weit genug, aber die Richtung lässt man sich gefallen.
GREVENSCHIET
nannten die Straßenkehrer der Revolution die letzten Ausscheidungen
der Delinquenten, die auf der Place de Grève ihr
Leben beendeten. Das Alter des
Ausdrucks ist schwer zu bestimmen. Was die Substanz oder Materie
angeht, auf die er verweist, so bleibt festzuhalten, dass darüber
die unterschiedlichsten Ansichten bei den Klassikern umlaufen.
Manche meinten, es handle sich dabei um die letzten auffindbaren
Manifestationen von religiösem Bewusstsein, doch scheint diese
Auffassung sich nicht gehalten zu haben. Andere tendierten dazu, in
ihr den Ausdruck reiner Menschlichkeit zu vermuten, doch gilt das
allgemein bis heute als ›zu polemisch‹. Den Anhängern der
Irrelevanzthese, die sich vor allem im zwanzigsten Jahrhundert
großer Beliebtheit erfreute, hielt Adamsen-Fritschalk (1987)
vermutlich zu Recht entgegen, dass sie nicht genug in die
Materie vertieft waren, um sich ein Urteil zu erlauben. Hier ein
Ausriss aus seiner
Geschichte der
europäischen Säuberungen in der überarbeiteten Fassung von
1999: »Was immer die Hinterlassenschaft einer untergegangenen
Epoche, einer untergegangenen Welt bedeutet, sie ist es wert, mit
Leidenschaft erfasst und im Gedächtnis der Menschheit zu wirksamen
Pulvern zerrieben zu werden. Diese Menschen haben uns nicht
gekannt, wir sind ihnen nichts schuldig, aber sie schulden uns
Auskunft. Auskunft darüber, was wir können dürfen, ohne uns ins
Entsetzliche zu verlieren. Es wäre nicht schlecht, Riechlabors für
den Geschichtsunterricht einzurichten, in denen die Schüler, nicht
anders als im Fach Chemie, an den Folgen der von ihnen im
Gruppenversuch erprobten Gesinnungen zu schnuppern resp. zu
schnüffeln hätten. Für schwache Gemüter empföhle sich die
Beimengung einer geringen Menge Alkohol.« Anzumerken bleibt, dass
erste Versuche im Osten, das Konzept in Ansätzen zu realisieren, am
erbitterten Widerstand der Bevölkerung scheiterten, die sich ihre
Erinnerungen nicht nehmen lassen möchte. Über die notorische
Gleichgültigkeit des Westens (»Was soll der Scheiß?«) erübrigt sich
jede gesonderte Bemerkung.
GREXIT

Grexit* nennen wir eine mürbe, auf naive Gemüter schwammig wirkende Gesteins- und Denkungsart, die in gewissen Regionen des südlichen Europa anzutreffen ist. Eigentümlich ihre Fähigkeit, Vexierbilder im Betrachter zu erzeugen: was soeben zum Greifen nahe schien, entschwebt in die Ferne, was gerade noch fern lag, so dass es die Rede nicht lohnte, greift im nächsten Moment hart und scharfkantig nach Haut und Klamotten – kein Zuckerschlecken also für notorische Wanderer zwischen den Welten, stattdessen bester Stoff für Unterhaltungsartisten, die den Effekt zu ihren sicheren Einnahmequellen zählen. Aber was wäre schon sicher? Sicher war immer, der Grexit kommt, als relativ sicher gilt, dass er geht, sicher ist, dass nicht alles, was geht, schon deshalb im Kommen wäre. Wo kämen wir da hin? ›Mit dem Grexit gehen‹: die Parole war lange verpönt, ehe sie die Massen ergriff und zum Menetekel für Mitmenschen wurde, die freiwillig keinen Fuß vor die Tür setzen, es sei denn zum Zigarettenholen oder ins nächste Bistro. Nun streben sie ihm entgegen, Hand in Hand, die Sonne bräunt ihre Fesseln und lässt sie aparter erscheinen, sie treten fester auf, ist erst die Barschaft gerettet und die nächste Kamera auf sie gerichtet. In der Zeitung lesen sie: »Der Abbau des Grexit tritt in seine kritische Phase, die illegalen Steinbrüche nahmen überhand und neue Lizenzen sind, jedenfalls zur Zeit, nicht durchsetzbar. Der Unterschied zwischen Steinbruch und Landschaftsbild verdämmert, die Verantwortlichen propagieren den totalen Bruch, das Volk soll, wie immer, wenn jene versagt haben und ihre Unfähigkeit zur Nemesis verklären, die notwendige Entscheidung treffen. Wer wollte nicht, dass die Not sich wendet? Nun, wer den Braten riecht, kennt seine
Bratenwender und murmelt im Stillen: Stimmt sie weg!«
*Dieser Artikel muss bei gegebenem Anlass überarbeitet werden.
GRIMM, klein
Im kleinen Grimm
nachsehen: wunderbare Phrase! Und es kommt so oft vor, dass
man sich fragt, ob dies nicht das Nachschlagewerk schlechthin, das
wirkliche wahre und rechte Kompendium des menschlichen Wissens ist.
Denn wissen kann eigentlich jeder, er darf sich nur nicht dumm
anstellen. Zur Dummheit tritt die Scheu, die die Spreu vom Weizen
trennt. Kaum z. B. ist ein Preisträger gekürt, fallen die
wesentlichen Elemente der Scheu dahin und das Wissen fließt. Wohin,
das will keiner so genau wissen, vermutlich in die offenen Münder
der Zoobesucher, die der Prozedur schweigend und ergriffen
beiwohnen, doch was dann geschieht, entzieht sich der
Kenntnisnahme. So kommt es, dass der kleine Grimm zwar das
meistgelesene, aber auch verschwiegenste Handbuch des intelligenten
Zeitgenossen darstellt. Man bedient sich seiner und stellt es aufs
Bord zurück, ohne sich dessen recht bewusst zu werden. Der kleine
Grimm hat, anders als sein entfernter Verwandter, der große, der
ächte Grimm, ein Ende, das
unbemerkt herankommt – was bewirkt, dass keine Plätze nach ihm
benannt werden und keine Untersuchungen über ihn die Fachregale
füllen. ›Schlag nach im kleinen Grimm!‹ sollte es öfter heißen,
aber das wäre ebenso überflüssig wie nutzlos und, wie gesagt, die
Leute merken es ja nicht einmal, sie tun es nur trotzdem. Er ist
das Tor für mancherlei Einfälle aus dem All, für die kleinen grünen
Männchen, wie sie zu Zeiten hießen, als man es mit der
Zugehörigkeit nicht so genau nahm. Seit man peinlich darauf achtet,
scheinen sie auszubleiben, warum auch immer. Sie ist so possessiv,
die Zugehörigkeit, sie gibt nichts her. Doch das scheint bloß so,
unter der Oberfläche brodelt es weiter, die Start- und
Landetätigkeit ist beträchtlich. Nur publik soll es nicht werden.
›Achtung‹ steht an den Bretterzäunen, das Wort ist durchgestrichen
und es gelten die üblichen Schmierereien. Das Bewusstsein der Welt
ist eine Blume, wer sie pflückt, dem schlägt sie mitten ins
Gesicht.
GROSS
hieß der kleine Erläuterer dessen, was konservative Gemüter die
Dekadenz der Gegenwart nennen. Ich bezweifle, dass er selbst ein
konservatives Gemüt besaß – zu vergnügt, zu genügsam sah er all
denen in seiner Umgebung auf die Finger, die ihre Nummer nicht
brachten, ganz wie er selbst, der nach Attitüde und unter der Hand
kundgegebenem Anspruch ein Großer sein wollte, nachdem der Name es
ihm nun einmal vorschrieb. Er war und blieb ein Schreiberling der
putzigen Sorte. Als solcher unterhielt er sein Publikum, er
unterhielt es gut, für eine lange Weile, in der er die Langeweile
vertreiben half, bis er eines Tages verschwand, ohne eine Lücke zu
hinterlassen. Vor allem letzteres ist eine
Kunst, die Kunst der Höflichkeit,
selten geübt, seltener erkannt, daher von vielen gemieden, die um
jeden Preis erkannt sein möchten.
Wie anders lesen sich, aus verschiedenen Jahrzehnten
zusammengeklaubt und zwischen zwei Buchdeckel gesperrt, damit sie
nicht mehr auskommen können, die Artikel des Kunstkritikers, der,
stets mit von der Partie, wenn anstand, was seine jüngeren
Kollegen, die Englisch können, als ›Hype‹ bezeichnen, heute
der Bedenklichkeit dessen frönt, dem schwant, dass das Neue nicht
so neu und das Alte nicht so alt sei, weil Lebensgefühl und
Bedürfnislage es ihm so eingeben. Dieser war zu sehr Bewunderer der
Größe, als dass er dort hintanstehen wollte, wo sie gekürt wurde,
er stand zu sehr im Schatten der Kür, als dass er sich ein Urteil
angemaßt hätte, das nicht bereits im voraus vollstreckt war. Er,
der wahre Niemand, war groß, denn er war der Schatten, den das
Gängige warf, er vergrößerte ihn nach Kräften und sorgte mit dafür,
dass er überlebensgroß wirkte, bevor er verschwand. Einer, der
lähmte, wo Beweglichkeit alles bedeutet, ein Hasardeur der
Normalität.
GROSSENKNETEN

Die Kleinen zwicken und die Großen kneten: das hat, neben der fiskalischen Wirkung, auch eine strategische Bedeutung. Man begegnet der Überwachheit der Großen dadurch, dass man sie einzulullen versucht, und will die Kleinen in irgendeine Form von Wachheit hineintreiben, in der sie die Scheu vor dem Handeln ablegen, um eine vermutete Ruhe wieder zu erlangen, mit der es dann ein für allemal vorbei ist. Dabei passieren mancherlei Unfälle, im Großen wie im Kleinen, und auch das Verhältnis von groß zu klein kann sich abrupt in sein Gegenteil verkehren, doch beginnt hier leicht die Sozialschwärmerei, von der sich ein Erwachsener fernhält. Die beste Art zu kneten behalten sich Staaten vor, sobald sie sich in der strategischen Vorhand wähnen. Zum Beispiel führen sie Kriege, von denen sie hoffen, dass die ganz Großen sie aus der Portokasse bezahlen, falls nur genügend dabei abfällt. Eine trügerische Hoffnung, die sich hoch in der Luft leicht ins Gegenteil verkehrt. Der Strahl, auf dem eine großmütige Nation zum Sieg reitet, ist dünn und er kann jederzeit abreißen, wenn gewisse Rechnungen nicht aufgehen oder das Publikum die Geduld verliert oder wenn Gewährsleute abhanden kommen und die Konkurrenz schneller am Ziel ist. Das wahre Großenkneten ruht daher sicher in der Provinz. Flach muss es sein, soll das Verhältnis stimmen, und wer die Einnahmen scheut, hat von den Ausgaben nichts zu gewärtigen, es sei denn die nächste Wiederwahl oder leere Kassen, zumeist beides. Nur die gezwickten Kleinen stürmen hinaus in die Metropolen, in denen jener Hunger nach Mehr herrscht, der sich an der Provinz stillt. Größe, die sich rechnet, geht in die Fläche.
GROSSKRITIKER
Als das literarische System hierzulande auf die fatale Berufsschriftstellerei umgestellt wurde, erhob der Großkritiker seine Stimme und erklärte, er betrachte es als seine Aufgabe, einen erneuten Fall Kafka zu verhindern. Er meinte damit den Skandal, dass dieser Schriftsteller zu seiner Zeit nicht öffentlich wahrgenommen worden war. Auch Skandale unterliegen der Mode: seit jener Absichtserklärung hat sich kein Kafka zu Wort gemeldet. Nein, einen zweiten Fall Kafka hat es nicht gegeben, dafür wurde die Kritik zum Fall, bevor sie verfiel.
GROSSLEXIKON
Zwischen Großlexikon und Kleinlexikon liegen fünf Stadien, das weiß
jedes Kind und gelegentlich auch ein Erwachsener. Ansonsten verhalten
sich Großlexikon und Kleinlexikon zueinander wie Großhirn und
Kleinhirn. Im Großlexikon sind die Schandtaten des Kleinlexikons
aufgelistet, während das Kleinlexikon sich darauf beschränkt, alle
Arten der Niedertracht festzuhalten, um gelegentlich darauf
zurückzukommen. Das sollte nicht zur Annahme verleiten, das
Kleinlexikon besitze einen geringen, gegenüber dem des Großlexikons
vernachlässigbaren Umfang. Die Arten der Niedertracht sind
unerschöpflich (»wie die Natur«). Das gilt sowohl für ihren inneren als
auch ihren äußeren Umfang. Sie docken aber an eine gewissermaßen
einfache, überall auffindbare Struktur an, was die Lektüre des
Kleinlexikons nicht unerheblich erleichtert. Dennoch bleibt es schwerer
zu lesen als das Großlexikon in seiner unüberbietbaren Fülle und
Vielfalt, bei dem die Lektüre überall und nirgends ansetzen kann, ohne
in ihrem Ertrag eingeschränkt zu werden. Die Autoren des Großlexikons
sind vom Kleinlexikon förmlich gebannt, sie überschwemmen seine schiere
Existenz mit einer Fülle unbeweisbarer und unvereinbarer Theorien.
Daneben wälzen sie seinen Wortbestand praktisch täglich um, um, wie sie
sagen, zu neuen Erkenntnissen zu gelangen; es bleiben jedoch, wenn man
genauer hinsieht, stets die alten. Dennoch ist diese Arbeit, wie die
Herrin des Landes den Mikrofonen immer aufs Neue versichert,
unverzichtbar, denn wie jeder weiß, geht es nicht um Erkenntnis,
sondern um Mobilisierung. Wer oder was soll damit mobilisiert werden?
Dumme Frage. Im Lande der neuen Erkenntnis ist die Mobilisierungsmasse
eine Funktion der Erregung
E = Erkenntnis mal Zwietracht. Das
heißt, je absurder, manche sagen auch: je blödsinniger die Erkenntnis,
desto höher die Erregung und desto größer die Mobilisierungsmasse. Es
geht also darum, im Bedarfsfall – einem von der Regierung und ihren
Zuträgern sorgfältig festzulegenden
Datum, ›Zeitfenster‹ genannt
– die Absurdität der laufenden Erkenntnisse hochzufahren, was am besten
gelingt, wenn man den für die Aufgabe jeweils auserkorenen
Wissenschaftlern gehörig Beine macht. – Das schließlich wirft die Frage
nach den fünf Stadien auf. Dabei handelt es sich nicht um das aus der
Antike geläufige Längenmaß, sondern um der Menschheitsentwicklung
inhärente Wandlungseinheiten. Der Ausdruck ›Wandlungseinheit‹ wird
übrigens allein im ersten Teil des Großlexikons an fünfundzwanzig
unterschiedlichen Stellen erläutert, jedes Mal mit einem anderen
Zungenschlag und einer anderen Akzentsetzung, so dass die
Auseinandersetzung um diesen Begriff nie an ein Ende gelangen dürfte,
es sei denn, man lässt sie ruhen.
GROSSRECHNER

»An den ersten Auftritt des Großen Rechners kann ich mich gut
erinnern. Ich ging damals noch zur Schule… Wissen Sie was? Nein,
so geht das nicht, so geht das nicht. Alle erwarteten irgendwie
Gott, vielleicht nicht ihn selbst, sondern ein Zeichen, irgendein
Zeichen, irgendeinen Gott, stattdessen bekamen sie den Großen
Rechner, eine Erscheinung wie andere, die vor ihr Besessenheit
produzierten, denn, sehen Sie, besessen sind wir von ihm, keine
Frage. Wie sich das auswirkt? Nun, er kostet uns viel, dieser große
Rechner, dieser umwerfend große Rechner. Er will gefüttert sein,
das ist wahr, und sein Datenfluss gilt als unerschöpflich, man
fragt sich, wo die vielen Eimer herkommen sollen, ihn wegzutragen.
Viele von uns besitzen so eine kleine Vertiefung und einen kleinen
Hohlraum darunter, das reduziert das Problem. Menscheneimer ... sie
schaffen vieles weg, nachdem sie es angeschafft haben. Jetzt, da
der Große Rechner unter ihnen weilt, stellen sich viele Fragen neu,
gleichsam zum ersten Mal, und die Antworten, die er gibt, sind
sensationell. Ausgesprochen sensationell. Man kann auch nicht
sagen, dass die Erwartung abstumpft, solange seine Kapazität noch
wächst. Zum Beispiel darf man sich fragen, wie wunderbar unser
Geschick es gefügt hat, dass er seit seinem Erscheinen die Welt auf
den Schultern trägt. Wie das gemeint ist? Schauen Sie hinaus:
Dieses Grünen und Blühen und Blauen, es wäre schon morgen erledigt,
wenn wir ihn nicht hätten. Er, er allein lehrt uns die Natur und
die Wege zu ihrer Erhaltung. Mit jedem Leistungszuwachs auf seiner
Seite erkennen wir genauer den Abgrund, an dem wir stehen: heute,
morgen, immerdar. Er allein lehrt uns, was zu tun ist. Opfer müssen
wir bringen, das ist wahr, aber besser heute als morgen, so kommen
wir billiger davon. Was sagten Sie? Nein, es ist nicht der Gott der
Azteken, was reden Sie, die sind erledigt, perdü, fahren Sie nach
Mexiko und studieren Sie die Reste, aber geben Sie Ruh’.«
GRÜNSPAN
»Übers Grünsein haben so viele die Feder gewetzt, dass die Gans stinkt, der zuliebe der Einfall zum Durchfall wurde, nicht des Gerupftseins wegen, das sie gewöhnt ist, sondern weil sie der Stallgeruch zusetzt, der aus den verschiedensten Lagern einströmt. Grünsein heißt, in allerlei Ruch zu stehen. Wer auf jede erdenkliche Frage die naturgegebene Antwort besitzt, über dem fällt das Kreuzworträtsel
Zukunft zusammen, als sei es das Kartenhaus, das nebenan, am Biertisch der Ingenieure, schichtweise neu geschichtet wird.« Noch Fragen?
GRUNDBELEIDIGT

»Jetzt reden sie wieder vom Geist«: das Gesicht des Philosophen,
der grimmig entschlossen scheint, sich dem Unfug zu widersetzen,
zeigt diese Spur von Geistlosigkeit, die durch Zeitgenossenschaft
in den Rang eines Sigillums erhoben wird. Er kann es nicht lassen
und er kann es nicht tun. Er ist in diese Konkurrenz hineingeraten
wie in einen Tunnel, in dem jedes neue Fünkchen, das ihm für den
Ausgang steht, sich im Näherkommen als niedergebrannte Hoffnung
erweist. Kommt er denn näher? Bewegt er sich überhaupt? Ist nicht
die Ausstrahlung seiner Entschlossenheit so stark, dass die
Ergebnisse seiner Denkreise sich im Flug entfernen? Aber das hieße
ja, dass er sich immer diesseits des Aufbruchs befände, als den
sich sein Denken darstellt. Diesseits des Aufbruchs... jenseits der
Hoffnung... beiderseits des mit der Geburt des Individuums
aufscheinenden Gedankens und jeder Wahrnehmung entrückt – selbst
das Wort ist ihm suspekt, er backt kleine Brötchen daraus, die er
verhökert, um sie nicht kauen zu müssen, geschweige denn verdauen,
was wirklich das Letzte wäre und ihn im Weingenuss aufhielte.
Lieber ein Saufgelage als eine Lage: das ist, als Parole,
russisches Roulette rückwärts und also eigentlich unvorstellbar.
Nur so lässt es sich praktizieren.
GRUNDKONSENS

Die Deutschen, die nach dem Krieg etwas geworden sind, erkennt man
daran, dass sie panisch darauf bedacht sind, nicht den Grundkonsens
zu verlassen. Nicht immer fällt es leicht, zu verstehen, was sie
damit meinen: mehr jedenfalls als die Tuchfühlung von Jahrgängen,
die durch eine Phase der Desorientierung hindurchmussten, eher den
geschmeidigen Schulterschluss von Leuten, die auch dabei nicht
ertappt werden möchten. Überhaupt spielt das Ertapptwerden in ihrem
mentalen Haushalt eine bedeutende Rolle. Die ’68er haben das
verstanden und kräftig ausgebeutet. Nach ihnen kamen die Medien,
die viel vom Stil jener Jahre lernten. Sie sorgten dafür, dass der
Grundkonsens überlebte. So sind die Deutschen, bei aller
›Auseinandersetzung‹, geblieben, was man ihnen einst vorwarf: das
akklamierende Volk. Wer die rote Linie überschreitet, wird nicht
ausgegrenzt, nein – er wird geächtet. Mancher richtet sich in
seinem Renegatentum ein, als gehe es in diesem Leben darum, Unrecht
zu behalten – als eine Art Ur-Recht dessen, der sich mit der
Duckmäuserei nicht abfinden will und deshalb den ersten Stein
wirft. Die Gesellschaft hält solche Leute auf Vorrat. Man nennt
sie, mit einem griechischen Ausdruck, ›Pharmakoi‹.